Der letzte Tiger
er dringend mit ihm sprechen wolle. Er würde im Krankenzimmer warten.
Thuy lag in einem Mehrbettzimmer, in dem die Betten durch Vorhänge voneinander abgeschirmt waren. Sie hatte die Augen geschlossen. Ihr rechter Arm war geschient, und an mehreren Stellen stachen Schrauben aus dem Fleisch heraus. Ly konnte kaum hinschauen, so furchtbar sah es aus.
Er setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Bett und nahm ihre gesunde Hand. Sie lag schlaff in seiner. Was war, wenn Thuy nicht mehr aufwachte? Die Angst schnürte ihm fast die Luft ab. Was sollte er ohne sie tun? Die Kinder brauchten sie. Er brauchte sie. Gerne hätte er Thuy jetzt gesagt, wie sehr er sie liebte. Und wie leid ihm das alles tat. Aber er brachte kein Wort über die Lippen.
Huong hatte sich auf die Bettkante gesetzt und streichelte den Arm ihrer Mutter. Auch sie sagte nichts.
Sie saßen beide einfach nur da und warteten. Warteten, dass Thuy aufwachte. Oder dass zumindest ein Arzt kam und endlich mit ihnen sprach. Außer ihnen war kein Besucher im Raum. Das Surren einer Maschine war zu hören, ansonsten war es still. Beängstigend still, wie Ly fand.
Umso mehr Zeit verging, desto unruhiger wurde er. Draußen wurde es schon dunkel.
Irgendwann stand er auf und ging auf den Gang hinaus. Ein Arzt war unauffindbar. Und die Schwester vertröstete ihn wieder auf später.
Als er zurück ins Krankenzimmer kam, war Huong eingeschlafen. Sie schnarchte leise. Ihr Kopf war auf die Decke ihrer Mutter gesackt. Ly setzte sich und fasste wieder nach Thuys Hand. Mehrmals flackerten ihre Augenlider, doch sie öffnete sie nicht.
Ly schreckte hoch. Er musste auch eingeschlafen sein. Am Fußende des Bettes stand ein Arzt.
»Ich komme jetzt erst aus dem OP«, sagte er. »Es war kein guter Tag, viele Unfälle.« Er zwinkerte mit den Augen, als sei er nervös oder übermüdet. Er sah jünger aus, als Ly es von einem Arzt erwartete, und es gefiel Ly nicht, dass so jemand für Thuys Leben verantwortlich sein sollte. »Wie geht es meiner Frau?«, fragte er.
»Sie hatte eine Milzruptur«, sagte der Arzt.
Ly schluckte, er wusste, wie schnell man an so etwas innerlich verbluten konnte.
»Wir haben die Milz entfernt. Gerade noch rechtzeitig.«
»Und ihr Arm?«, fragte Ly.
»Ein komplizierter Oberarmbruch. Außerdem sind zwei Rippen gebrochen.«
»Aber warum …« Ly wagte nicht, die Worte auszusprechen, zu große Angst hatte er vor der Antwort.
»Sie hat keinen Schädelbasisbruch, falls Sie das fragen wollten«, sagte der Arzt. »Sie hat zum Glück einen Helm getragen.«
»Aber warum ist sie immer noch nicht zu sich gekommen?«
»Wir haben sie ruhiggestellt. Morgen früh wird sie wieder bei vollem Bewusstsein sein.«
In einem ersten Impuls wollte Ly den Arzt beschimpfen, ihm sagen, wie unmöglich es war, ihm das erst jetzt zu sagen. Er hatte die ganze Zeit geglaubt, Thuy läge im Koma. Aber dann war er einfach nur erleichtert und sagte nichts.
Nachdem der Arzt gegangen war, stand Ly noch lange am Bett und sah Thuy an. Wenn er als Erster am Morgen mit der Vespa gefahren wäre, wäre er jetzt tot. Er trug in der Stadt nie einen Helm, und er fuhr um einiges schneller als Thuy. Sie hatte ihm das Leben gerettet.
*
Ly brachte Huong nach Hause und ging noch einmal auf die Straße. Schlafen könnte er jetzt sowieso nicht. Die Gittertüren vor den Häusern waren zugezogen und die Lichter in den Fenstern erloschen. Nur in dem kleinen Eck- bia hoi ein Stück die Straße hinunter saßen ein paar junge Ausländer. Ly setzte sich etwas abseits und bestellte ein Bier und ein halbes Dutzend gekochter Wachteleier und rief Lan an. Er wusste, sie ging immer erst spät schlafen.
»Wie geht es Thuy?«, fragte sie besorgt.
»Nicht gut. Aber sie wird wieder. Hast du schon was von Tu gehört?«
»Noch nichts Neues. Er hat die Beschattung übernommen. Und ich habe noch eine Telefonabhörung eingeleitet.«
»Gut«, sagte er und fragte nicht, wie sie das ohne offizielle Anordnung durchgesetzt hatte. Sie fand immer irgendwie einen Weg, sogar bei den obrigkeitshörigen Technikern. Wenn sie wirklich mit nach Australien ginge, wäre er aufgeschmissen. So beiläufig wie möglich fragte er: »Hat Tu dir eigentlich erzählt, dass er kündigen will?«
»Das würde ich nicht so ernst nehmen«, sagte Lan.
»Na, hoffentlich hast du recht«, sagte er. »Weil – er hat einen Job in Australien in Aussicht.«
Einen Moment hörte Ly Lan nur leise atmen. Dann sagte sie: »Das hat er nicht erwähnt.« Sie
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