Der letzte Tiger
klang verletzt, und es tat Ly sofort leid, dass er etwas gesagt hatte.
Ly bestellte ein zweites Bier. Sein Verdacht erschien ihm immer noch unglaublich.
Hatte er sich nicht vielleicht doch geirrt? Er war übermüdet. Und er war wütend wegen dem, was Thuy passiert war. Er trank sein Bier aus und stand auf. Er musste seine Unruhe loswerden. Und seine Zweifel. Er ging die paar Meter zur St.-Josephs-Kathedrale, wo auch um diese Uhrzeit noch xe oms standen, und ließ sich von einem der Motorradtaxen bis zur Auffahrt der Long-Bien-Brücke fahren. Von da aus ging er zu Fuß weiter. Auf der Deichstraße unterhalb der Brücke standen Lastwagen und Pick-ups, hoch beladen mit Kohl und Ananas. Dahinter, auf dem Großmarkt,leuchteten matte Lichter. Männer schleppten Kisten und Säcke über den Marktplatz. Dumpfe Zurufe und Stimmen drangen zu Ly hinauf.
Mit schnellen Schritten ging er weiter. Im Fenster eines Hauses, das dicht an die Brücke gebaut war, stand ein Mann und rauchte. Vom Fluss her stieg kühle Luft auf. Ein Bootsmotor tuckerte leise.
Ly nahm die Rampe, die zur Sandbank hinunterführte, und folgte dem Pfad durch die Felder. Der Mond schien so hell, dass er den Weg zu den Hausbooten gut fand. Leise rief er nach Cao, pfiff und rief wieder, bis die massige Gestalt des Grenzers in der offenen Tür des Hausbootes erschien. Ly schob das Styroporfloß, das am Ufer lag, ins Wasser, kniete sich darauf und stakte es mit einer Holzstange vorwärts, die er im Sand gefunden hatte. Das Floß schwankte bedenklich, aber Ly kam trocken am Ponton an.
»Sie schon wieder«, sagte Cao mit der ihm eigenen knarrenden Stimme, reichte Ly jedoch eine Hand und half ihm hoch. Das Floß befestigte er am Ponton, damit es nicht davonschwamm.
In der Hütte brannte eine Kerze. Sie setzten sich. Die Tür zu dem hinteren Raum war geschlossen. Ly vermutete, dass dort die Familie schlief, der das Hausboot gehörte. Bang lag wie neulich auch auf einer Matte im vorderen Raum.
Flüsternd erzählte Ly Cao von seinem Verdacht, und noch bevor er ganz geendet hatte, hörte er an Bangs schnellem Atem, dass der Junge wach war. »Bang? Geht’s dir besser?«, fragte Ly.
Bang rollte sich auf die Seite und sah zu ihm hinüber. »Kommissar, was machen Sie denn hier?«
»Kennst du den Mann, von dem ich gerade geredet habe?«, fragte Ly.
»Nein«, sagte Bang.
»Hast du in Hanoi je irgendwelche Bekannten der Baronin getroffen? Du warst doch öfter mit in der Stadt, oder?«
»Hm. Da kam nur manchmal eine Freundin.«
»Jacky?«, fragte Ly.
Bang überlegte. »Nein. Sie hieß Thuy. Sie hatte so eine knallgrüne Tasche, die sie nie losließ. Und ihr Lippenstift war über die Haut gemalt wie bei einem Clown.«
Was für eine passende Beschreibung, dachte Ly. Das konnte nur Jacky sein. Nun hatte er auch noch den vietnamesischen Vornamen dieser Mittlerin. Obwohl ihm das kaum etwas nutzen würde. Jede dritte Frau hieß Thuy, es war der beliebteste Vorname.
»Nachts habe ich manchmal Männerstimmen gehört«, ergänzte Bang. »Aus dem Flur. Aber da kam nie jemand ins Zimmer.«
»Und du hast nicht nachgeschaut?« Ly sah Bang an. Das nahm er ihm jetzt nicht ab.
»Na ja, doch.« Bang grinste. »Aber es war dunkel. Ich weiß wirklich nicht, wer da war.«
»Die Baronin ist in Hanoi aufgewachsen«, sagte Ly. »Waren nicht mal Freunde von damals zu Besuch in Na Cai?«
Bang hustete. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Er griff nach dem Eimer neben sich und übergab sich. Ly musste bei dem Anblick seinen eigenen Würgereiz unterdrücken.
»Solche Besuche gab’s nicht«, sagte der Grenzer.
»Aber sie hat doch sicher mal von ihrer Zeit in Hanoi erzählt?«, hakte Ly nach.
Der Grenzer gab einen Laut von sich, der tief aus seiner Kehle zu kommen schien, und sagte dann: »Die Baronin hat nie viel erzählt.«
»Sie hat …«, sagte Bang, hustete wieder und trank einen Schluck Wasser aus der La-Vie -Flasche, die neben seinem Bettlager stand. Dann setzte er noch einmal an: »Die Baronin hat manchmal von einem Mann erzählt. Ich glaube, er hat sie, als sie noch Kind war, mit ihren Eltern zusammen bei sich in Hanoi aufgenommen. Sie hat immer gesagt, sie sei ihm sehr dankbar.«
Ly schüttelte den Kopf. Wenn der Mann die Baronin als Kind aufgenommen hatte, musste er heute sehr alt sein. Der Mann, den er in der Nacht belauscht hatte, war jünger als die Baronin. Er hatte sie mit chi angesprochen. Andererseits, dachte Ly, jemanden, in dessen Schuld sie stand oder dem
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