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Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Luttmer
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ölverschmierten Werkstattboden lag. Die Verkehrspolizei hatte sie von einem Pick-up bei ihnen abgeladen. Sie war nur noch ein Haufen Schrott. Hieu zog am Tankschlauch und schnitt mit einem Metallschneider Teile aus dem Wrack. Ly wandte sich ab. Er ertrug es nicht, sich vorzustellen, mit welcher Wucht Thuy gegen den Bus geprallt sein musste. Und dabei fuhr sie doch immer so vorsichtig. Sie nahm kaum die Hand von der Bremse. Er murmelte ein » lay troi lay dat «. Aber seine Beschwörungsformel vertrieb nicht seine Gedanken, und schon gar nicht seine Angst. Er spürte, wie ihm wieder die Tränen kamen, und wischte sich mit der Hand über die Augen.
    »Schau dir das an«, sagte Hieu.
    »Jetzt nicht«, fuhr Ly ihn an. Es interessierte ihn nicht, was mit der Vespa war.
    Hieu gab ein Murren von sich und griff nach dem Bier, das neben ihm auf dem Stuhl stand. Ly wollte nicht wissen, das wievielte es heute schon war. Er ärgerte sich über seinen Bruder, der immer nur seine Schrauberei und den Alkohol im Kopf hatte. Sogar jetzt, wo Thuy gerade mit der Vespa, die da vor ihm lag, verunglückt war und Ly aus Angst um seine Frau schier verrückt wurde.
    Mit zittrigen Fingern zündete Ly sich eine weitere Zigarette an, als er die Krankenschwester über die Straße kommen sah. Er sprang auf und rannte ihr entgegen. Sie griffnach seinen Händen und lächelte. »Ihre Frau hat die Operation überstanden«, sagte sie.
    Ly hätte die Krankenschwester jetzt am liebsten fest gedrückt. »Kann ich zu ihr?«, fragte er.
    »Jetzt nicht.«
    »Welche Verletzungen hat sie?«
    »Da müssen Sie mit dem Arzt sprechen«, sagte sie. »Kommen Sie am Nachmittag rüber.«
    »Geht das nicht gleich?«
    »Nein. Der Doktor hat schon die nächste OP.«
    Ly sah ihr hinterher, wie sie zurück ins Krankenhaus eilte. Er nickte Minh zu, nahm Huong in die Arme und flüsterte: »Alles wird wieder gut.« Er hoffte inständig, dass dem auch wirklich so war. Minh stand auf und klopfte ihm auf die Schulter. »Ich komme nachher noch mal«, sagte er.
    »Ja, danke«, sagte Ly mit belegter Stimme.
    »Hey, Ly«, rief Hieu. »Schau dir das doch endlich mal an.« Er hielt Ly ein Bremsseil vor die Augen.
    Ly schob es mit der Hand weg. »Lass mich damit jetzt echt in Ruhe«, schnauzte er seinen Bruder an.
    »Ly, wie wär’s, du hörst mir einmal zu.«
    Dafür, dass sein Bruder sonst nie seine Meinung äußerte, kam dieser Satz fast einem Wutausbruch gleich. Ly sah ihn überrascht an.
    »Da hat jemand nachgeholfen«, sagte Hieu. Er hielt immer noch das Bremsseil in den Händen.
    *
    Das Bremsseil mit einem Seitenschneider so weit durchzukneifen, dass es beim ersten Bremsversuch riss, konnte kein Problem gewesen sein. Tagsüber standen die Motorräder auf dem Gehweg, um im Erdgeschoss des Hauses Platz zu schaffen. Der Saboteur hätte nur einen Moment abwarten müssen, in dem die neugierigen Nachbarn abgelenkt waren.
    Ly stellte das Duschwasser so heiß, dass es auf dem Rücken brannte. Der Anschlag hatte ihm gegolten. Thuy hatte es nur erwischt, weil sie mit seiner Vespa zum Markt gefahren war. Wut stieg in ihm hoch. Mit den Fäusten schlug er gegen die Wand. Eine dicke Schicht Putz bröckelte ab und fiel auf den Boden. Wer auch immer Thuy das angetan hatte, er würde ihn dafür dranbekommen.
    Er rief sich die Stimme aus dem Haus der Baronin ins Gedächtnis. Konnte es sein, dass dieser Mann ihn gestern Nacht in seinem Versteck unter der Treppe doch gesehen hatte? Er war ja nur davon ausgegangen, dass er nicht entdeckt worden war, weil der Mann sich nichts hatte anmerken lassen. Aber vielleicht hatte er auch nur vor der Baronin verheimlichen wollen, dass Ly da war. Aber warum?
    Ly schloss die Augen und ließ sich das Wasser über das Gesicht laufen.
    Er spulte die Worte ab, die er in seinem Versteck unter der Treppe belauscht hatte. Wieder und wieder. Diese Stimme – woher kannte er sie? In Gedanken ging er jeden durch, den er irgendwie mit der Baronin in Verbindung brachte. Da waren die Männer, die er auf dem Karaokeabend in Na Cai getroffen hatte. Aber die Art, wie die Baronin und dieser Mann gestern Nacht miteinander gesprochenhatten, ließ Ly nicht daran zweifeln, dass in dieser Beziehung nicht sie der Chef war, sondern er. Und die Männer auf der Karaokeparty hatten alle vor der Baronin gekuscht. Bis auf den Grenzer, aber seine Stimme war knarrend und rau, diejenige des Mannes gestern Nacht dagegen war ruhig gewesen und weich.
    Ly prustete. Das Wasser war kalt geworden.

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