Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Luttmer
Vom Netzwerk:
mich nicht hören.
    »Hier«, sagte die Baronin, und endlich trat der Mann ein paar Schritte von dem Treppenabsatz weg. Ly atmete erleichtert auf.
    Dem Rascheln des Papiers nach zu urteilen, öffnete der Mann die Päckchen, die eben noch auf dem Altar gelegen hatten, und zählte das Geld nach.
    »Traust du mir jetzt auch nicht mehr?«, fragte die Baronin leise, fast ängstlich. Eine Tonlage, die er so von ihr auch noch nicht gehört hatte.
    Der Mann lachte leise. Es war ein Lachen, bei dem Ly eine Gänsehaut über die Arme lief. Es verhieß nichts Gutes.
    *
    Die Morgendämmerung hatte schon eingesetzt, als Ly endlich nach Hause kam. Er schlief sofort ein.
    Als er aufwachte, war draußen längst strahlender Sonnenschein. Das Licht fiel hell durch die Dachluke. Ly blinzelte. Thuy saß am Fußende des Bettes. Vor sich hatte sie einen Wäschekorb stehen.
    »Woher hast du das denn?«, fragte sie und hielt das Nashorn-Horn hoch. Sie musste es in seiner Hosentasche gefunden haben. Ly brummte vor sich hin, drehte sich zur Wand und versuchte, wieder einzuschlafen. Was sollte er Thuy auch sagen? Er konnte schlecht zugeben, dass er in eine Wohnung eingebrochen war und es mitgenommen hatte.
    »Deine Mutter hat wieder starke Schmerzen«, sagte Thuy. »Doktor Song hat heute Morgen schon nach ihr gesehen.«
    »Gut«, murmelte Ly und zog sich die Decke über denKopf. Er brauchte dringend mehr Schlaf. Thuy sagte noch etwas, aber ihre Worte drangen schon nicht mehr klar zu ihm durch, sondern vermischten sich mit einem Traum.
    *
    »Ly. Ly! Wach auf.«
    »Lass mich«, murrte Ly. Sein Bruder musste mal wieder betrunken sein, dass er versuchte, ihn zu wecken.
    »Los, wach auf«, rief Hieu und schüttelte Ly. »Thuy ist verunglückt!«
    Bei diesen Worten fuhr Ly hoch.
    »Sie wollte … zum Markt … mit deiner Vespa. Ein Bus. Sie haben sie ins Krankenhaus gebracht. Das deutsch-vietnamesische.«
    Hieu hatte noch nicht ausgesprochen, da war Ly längst aufgesprungen und hatte sich ein Hemd übergeworfen. Die Hose von gestern hatte er noch an. Er rannte die Stiege hinunter und aus dem Haus.
    Ohne sich weiter nach dem Verkehr umzusehen, stürmte er über die Straße und hinunter zum Haupteingang des Krankenhauses, das nur wenige Meter von ihrem Haus entfernt lag. Er rannte zur Notaufnahme durch und hielt den ersten Arzt, den er sah, am Arm fest. »Nguyen Thi Thuy«, sagte er atemlos. »Sie muss hier …«
    »Sind Sie der Ehemann?«, fragte der Arzt.
    »Ja«, wollte Ly sagen, aber das Wort blieb ihm im Hals stecken, und er nickte nur.
    Der Arzt legte ihm eine Hand auf die Schulter und sah ihn freundlich an. Ly schossen die Tränen in die Augen. Gleich würde der Mann ihm sagen, Thuy sei tot. Nettund mit mitleidendem Blick, so machte er es doch auch immer, wenn er Todesnachrichten überbringen musste.
    *
    Eine halbe Stunde später saß Ly unten in Hieus Werkstatt. Er hatte die Gitter zur Straße halb zugezogen, damit keine Kunden hereinkämen. Huong hatte ihren Kopf in seinen Schoß gelegt und weinte, wobei ihr ganzer Körper zitterte. Ly streichelte ihren Rücken, ohne das Gefühl zu haben, sie irgendwie trösten zu können. Er war genauso verzweifelt wie sie. Seine Mutter kniete vor ihrem Altar und murmelte ein unentwegtes »nam mo a di da phat«, Ehre sei Buddha. Der Geruch von glimmenden Räucherstäbchen hing im Raum. Minh war gekommen. Und auch wenn er nur schweigend neben ihnen saß, war Ly doch froh über die Anwesenheit seines Freundes. Duc hatten sie in der Schule gelassen und organisiert, dass er später zu einem Freund ginge. Er wäre mit der Situation noch überforderter als sie alle. Was hätte Ly ihm auch sagen können? Sie wussten nichts Konkretes. Der Arzt hatte lediglich gesagt, dass Thuy schwer verletzt sei. Sie werde gerade operiert.
    Die Krankenschwester, der Ly das gesamte Geld, das er noch in seiner Hosentasche hatte finden können, zugesteckt hatte, hatte auf dem Krankenblatt gesehen, dass Ly gleich nebenan wohnte. Sie hatte ihn gedrängt, zu Hause zu warten. »Bitte, Sie sehen doch, was hier los ist«, hatte sie gesagt. Der Vorraum zur Notaufnahme war überfüllt mit wartenden Großfamilien.
    Die Krankenschwester hatte Ly versprochen, jemandenvorbeizuschicken, sobald Thuy aus dem Operationssaal käme. Das war jetzt schon fast zwei Stunden her.
    Ly rauchte eine Zigarette nach der anderen und sah immer wieder auf die Uhr. Sein Bruder hockte auf dem Boden und hatte begonnen, Lys Vespa auseinanderzunehmen, die auf dem

Weitere Kostenlose Bücher