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Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Luttmer
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Mit angehaltenem Atem wartete er, ob nun der Alte von gegenüber auftauchen würde. Aber nichts geschah.
    Er öffnete die Dose. Darin lagen eine kleine Reibe und ein etwa ingwerknollengroßer Gegenstand. Erst dachte Ly, es sei ein Stück Holz. Aber die Struktur der Oberfläche war ungewöhnlich. Die eine Seite war glatt abgesägt, auf der anderen stachen splittrige, borstenartige Fasern heraus.
    Ly drehte den Gegenstand zwischen seinen Fingern. Es musste ein Stück Nashorn-Horn sein. Tu hatte ihm kürzlich eines gezeigt, das sie im Haus an den Gleisen gefunden hatten. Aber was zum Himmel hatte das in der Futterkiste für die Fische zu suchen? Geröstete Schlangenhaut, ja, die gab Ly seinen Fischen auch hin und wieder. Sie hatte antibiotische Wirkung. Aber die Baronin raspelte doch nicht ernsthaft Nashorn-Horn ins Wasser? Es hieß, es helfe gegen Ohnmacht und heile Krebs. Auf dem Schwarzmarkt war es teurer als Gold. Es an Fische zu verfüttern, das war doch vollkommen absurd.
    Anstatt aber lange darüber nachzudenken, sah Ly sich weiter um. Den größten Platz im Raum, abgesehen einmal vom Bett, nahm der Altar ein. Es war ein hoher Holztischmit feinen Schnitzereien. In seiner Mitte stand das handgezeichnete Porträt eines alten Mannes. Der Vater der Baronin, vermutete Ly. Vor dem Bild lagen Mangos und Drachenfrüchte. In einer Vase standen frische Margeriten. Ly fragte sich, ob der alte Nachbar sie hingestellt hatte. Irgendjemand musste ja auch die Fische füttern, wenn die Baronin nicht da war. Allerdings fand Ly es etwas ungewöhnlich, dass sich ein Fremder um den Familienaltar kümmerte. Neben der Schale für die Räucherstäbchen lagen vier in Zeitungspapier eingewickelte Päckchen. Ly legte das Horn beiseite, nahm eines der Päckchen und schlug das Zeitungspapier auseinander.
    » Troi oi !«, entfuhr es ihm. O Himmel! In dem Papier waren Dollarscheine eingewickelt. Hunderternoten. Ly ließ seinen Daumen über den Packen laufen, es mussten an die tausend Scheine sein. Und in den anderen drei Päckchen war vermutlich ebenso viel Geld. Ly wollte das gerade überprüfen, als auf der Straße eine Autotür schlug. Mit dem Geld in der Hand trat er ans Fenster und konnte durch die Schlitze in den Läden ein Taxi ausmachen, das vor dem Haus gehalten hatte. Dann hörte er, wie jemand das Gitter im Erdgeschoss aufzog. Schnell wickelte er die Geldscheine wieder in das Papier und legte sie zurück auf den Altar. Er wollte noch das Horn in die silberne Dose zurücklegen, als er von unten Stimmen hörte. Er eilte aus dem Raum. Das Horn ließ er in seine Hosentasche gleiten, offen herumliegen lassen konnte er es kaum.
    Schritte kamen die Stufen herauf. Lys Herz pochte. Er musste sich verstecken. Nach unten konnte er jetzt nicht mehr, und vor der Tür zum Dach hing ein Schloss.
    »Vielleicht verschieben wir die Lieferung besser nochmal«, hörte er eine Frauenstimme sagen. Es war die Baronin. War sie also doch in der Stadt.
    »Nein. Die Ware ist zugesagt. Wenn wir jetzt nicht liefern, sind wir den Auftrag los«, sagte eine zweite Person. Es war ein Mann. Ly kam die Stimme vertraut vor, vielleicht bildete er sich das aber auch nur ein. Er war zu müde, als dass er seinem Gespür noch vertraute.
    »Es wird viel zu gefährlich«, sagte die Baronin, die jetzt schon fast oben im Flur stand. Im letzten Moment sprang Ly unter den Absatz der Treppe, die zum Dach hinaufführte, und machte sich so klein wie möglich.
    »Die eine Lieferung nehme ich noch an, da steckt viel Geld drin«, sagte der Mann. »Dann sind wir weg.«
    »Aber wir haben kein Lager«, wandte die Baronin ein. Ihre Stimme hatte nicht mehr die Selbstsicherheit wie auf dem Karaokeabend oben in Na Cai.
    »Bis die Lieferung übermorgen hier ist, habe ich etwas organisiert. Mach dir keine Sorgen.« Der Mann sprach die Baronin mit chi an, was ältere Schwester bedeutete. Das hieß allerdings nicht zwingend, dass sie mit ihm verwandt war, sondern lediglich, dass sie etwas älter war als er.
    »Du entscheidest«, sagte die Baronin.
    Aus seinem Versteck konnte Ly sehen, dass sie die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet hatte und hineinging. Der Mann lief im Flur auf und ab und blieb dann genau vor der Stelle stehen, wo Ly unter dem Treppenabsatz kauerte. Ly konnte den Saum einer dunklen Stoffhose sehen und Füße, die in abgetragenen Ledersandalen steckten. Wieso stand der Mann so lange dort vor ihm? Ly hatte mit einem Mal das Gefühl, dass sein Atem rasselte. Bitte, Himmel, lass ihn

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