Der letzte Tiger
schüttelte den Kopf. »Ly! Was machst du hier? Du solltest bei Thuy sein. Wir machen das schon.«
»Ist der Chef da?« Er musste endlich mit ihm sprechen. Er ging zwar davon aus, dass die Lieferung erst eintreffenwürde, sobald es dunkel war. Aber trotzdem blieb ihnen nicht viel Zeit.
»In seinem Büro«, sagte Lan.
Ly war schon auf der Treppe, als sie hinter ihm her eilte. »Warte. Ich komme mit.«
Ly klopfte und öffnete die Tür des Chefbüros, ohne lange auf ein »Herein« zu warten. Lan zog schnell den kurzen Rock ihres kanariengelben Kostüms über die Knie und knöpfte die Bluse höher zu.
Der Parteikommissar saß auf einem der Kunstledersessel in der Sitzecke, auf seinem Schoß lag die Volkszeitung. Er sah zu ihnen auf.
»Parteikommissar Hung«, sagte Ly. »Wir müssen etwas Wichtiges mit Ihnen besprechen.«
»Genosse Ly, ich hatte Sie doch nach Hause geschickt«, sagte der Parteikommissar, während er Lan unverhohlen musterte.
Ly ärgerte sich. Alle schienen zu meinen, ihm sagen zu müssen, wo er zu sein hatte. »Es ist dringend«, sagte er.
»Na gut. Nehmen Sie Platz«, sagte Parteikommissar Hung und lächelte, was er nie tat, wenn Ly alleine zu ihm kam.
Das Sofa war so durchgesessen, dass Ly an die vorderste Kante rutschen musste, um nicht allzu tief einzusinken. Lan tat es ihm gleich. Mit kerzengeradem Rücken saß sie neben ihm.
Der Parteikommissar beugte sich zum Tisch vor und goss Tee aus einer Porzellankanne in drei kleine Tassen, schwenkte die Tässchen, um sie auszuspülen, und kippte den Inhalt in einen Spucknapf. Erst dann schenkte er denTee ein, den sie trinken sollten. Ly stieß Lan mit dem Ellenbogen in die Seite und machte ein Zeichen, dass sie anfangen sollte. Jetzt, wo sie schon mitgekommen war. Sie war geschickter, wenn es darum ging, mit dem Parteikommissar zu reden. Doch sie deutete nur ein Kopfschütteln an, hob ihre Teetasse mit zwei Händen und murmelte ein moi uong – »Lade zum Trinken« –, wie es die Höflichkeit vom Jüngsten am Tisch verlangte.
Der Tee war kalt und schmeckte schal wie der Sud gekochter Schnecken. Ly bemühte sich, sein Gesicht nicht zu verziehen, und begann, den Stand der Ermittlungen zusammenzufassen. Er sprach abgehackt. Er wusste selbst nicht so genau, wie er seine Gedanken formulieren sollte, versuchte aber so detailliert wie möglich zu berichten.
Er legte die Beziehung zwischen dem Tiger vom Literaturtempel und dem Haus an den Gleisen dar, das als Lager für den Tierhandel benutzt worden war. Er erwähnte die Mittelsfrau Jacky, ging über zu der Baronin und dem Grenzort Na Cai, wobei er die Tierkäfige im Wald erwähnte und Bangs Unfall. Er sagte, es füge sich alles zu einem einzigen Netzwerk zusammen, und Le Ngoc Truong, mit dem er befreundet gewesen war, müsse das herausgefunden haben. Er war in Na Cai gewesen, hatte die Tierkäfige im Wald fotografiert und war kurz darauf in Hanoi umgebracht worden.
Ly hielt kurz inne. Er erwartete, sein Chef würde jetzt erneut einwenden, Truongs Tod sei nur ein Unfall gewesen. Doch er sagte nichts, und Ly fuhr fort. »Für Truongs Stromtod können wir den Unfallfahrer vom Literaturtempel verantwortlich machen. Seine Fingerabdrücke haben wir in Truongs Wohnung sichergestellt.«
Dass Ly glaubte, dass der Tod von Le My Lien in der U-Haft kein Zufall war, ließ er aus. Er konnte es sowieso nicht beweisen. Auch den Tod des Unfallfahrers vom Literaturtempel erwähnte er hier nicht noch einmal. Vielmehr konzentrierte er sich bei seinen weiteren Ausführungen auf die Rolle der Baronin. So wie er es sah, hatte sie in der Provinz Son La beste Beziehungen in die Politik und zum Militär. Es dürfte deshalb schwer sein, gegen sie vorzugehen.
Der Parteikommissar hatte die Augen halb geschlossen. Nichts in seinem Gesicht wies darauf hin, dass er zuhörte; nicht einmal als Ly dazu überging, von dem Unfall seiner Frau zu berichten. Zumindest eine Nachfrage, wie es ihr ging, hätte Ly erwartet. Er war sich nicht einmal sicher, ob sein Chef überhaupt noch wach war. Wahrscheinlich würde er gleich noch anfangen zu schnarchen. Trotzdem zwang Ly sich weiterzureden.
Schließlich war er an dem Punkt angelangt, wo er auf den Mann, den er für den Drahtzieher hinter all dem vermutete, eingehen musste und zögerte. Wie sollte er erklären, dass er die Geldübergabe in der Hang-Trong beobachtet hatte? Er musste es so darstellen, dass sein nächtlicher Besuch bei der Baronin nicht als Einbruch erschien. Bevor ihm eine
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