Der letzte Vampir
Halbtoten mussten nur herauskommen, sie mussten nur mit Messern oder Keulen bewaffnet sein, und sie wäre tot. Sie konnte sie nicht alle abwehren.
»Sie sind feige«, sagte Arkeley. Seine Stimme war sehr leise.
»Was?«, fragte sie, aber sie verstand genau. »Ich habe doch nur noch zwei Kugeln«, sagte sie flehentlich, dabei wusste sie zu diesem Zeitpunkt ganz genau, dass er bloß in ihrem Kopf existierte. Dass er ihr Überlebensinstinkt war, abstrakt personifiziert.
Sie wartete einen Moment, bis sie sicher war, dass sich die Halbtoten dicht zusammendrängten, dann feuerte sie beide Schüsse direkt in den Spalt zwischen den beiden Türhälften. Ein schriller Schrei und viele aufgeregte Rufe ertönten. Gut so. Sie schob die leere Pistole ins Holster. Dann sprang sie zu Boden und schnappte sich einen weiteren Arbeitstisch sowie einen Stapel loser Balken. Bald hatte sie einen wackeligen Holzstapel errichtet, der aussah, als würde er gleich unter seinem eigenen Gewicht zusammenbrechen und erst recht unter ihrem. Sie starrte ihn an und dachte, dass sie unmöglich hinaufklettern konnte, dass es unmöglich sein würde, von dort bis zum Mauerrand zu springen.
Sie wusste, was Arkeley sagen würde. Sie würde es nur einmal versuchen müssen, und wenn sie sich dabei den Hals brach, spielte das auch keine große Rolle mehr.
Mit stark zitternden Händen zog sie sich auf das provisorische Gerüst. Sie stieg auf die oberste Ebene, eine umgedrehte Schubkarre. Sie setzte einen Fuß auf das Rad, und es rollte unter ihr weg. Sie versuchte es erneut. Ihr Körper zitterte wie ein Grashalm im Wind, aber sie schaffte es und stieß sich in die Höhe. Unter ihr brach der Stapel krachend zusammen.
Eine Hand schlug auf den Mauerrand und krallte sich dort fest. Ihre andere Hand schwang durch die Luft, aber sie kämpfte gegen die Bewegung an und packte auch mit ihr die Mauer. Dann zog sie, zerrte sich hoch. Von dort oben konnte sie sehen, dass der Hof auf drei Seiten von Werksgebäuden umgeben war. An der vierten Seite war eine Landstraße. Eine Straße – die irgendwo hinführen musste. In Sicherheit. Vor ihr ging es viereinhalb Meter in die Tiefe. Sie erlaubte sich nicht, darüber nachzudenken, senkte sich herab, so weit die Arme reichten, und ließ los.
Der Boden kam sehr hart und sehr schnell heran. Es trieb ihr die Luft aus den Lungen, ließ ihre gebrochenen Rippen gequält aufheulen, aber der Rest schien in Ordnung. Jedenfalls hatte sie keine gebrochenen Gliedmaßen. Sie rollte ab und lief zur Straße, bereit, den ersten Wagen zum Anhalten zu zwingen, den sie sah.
Sie war frei.
Scapegrace
Seine Gedanken waren blutrote Gedanken,
und seine Zähne schimmerten weiß.
– Saki, Sredni Vashtar
43.
In den hinteren Räumen des örtlichen Polizeireviers gab es eine Dusche, mit sauberen Handtüchern, guter Seife und allem. Was keine große Überraschung war – der Polizeichef war eine Frau. Caxton war etwas enttäuscht, dass es keine Badewanne gab, obwohl das vermutlich keinen besonders professionellen Eindruck gemacht hätte. Sie verbrachte mehr Zeit damit, sich zu waschen, als vermutlich nötig gewesen wäre.
Beim Ausziehen bemerkte sie Vesta Polders Amulett, das noch immer um ihren Hals hing, schmierig von Schweiß und Dreck. Sie säuberte es, hielt es ans Licht und konnte keine Veränderung daran erkennen. Sie hatte keine Ahnung, ob es ihr nun geholfen hatte oder nicht. Vielleicht funktionierten solche Dinge so. Vielleicht war es nur ein Placebo, vielleicht war es auch das Einzige gewesen, das sie vor Reyes’ Dominanz gerettet hatte. Sie würde es vermutlich nie erfahren.
Nachdem sie wieder sauber war, trafen die Sanitäter ein, um sie in Augenschein zu nehmen. Sie teilten ihr mit, dass sie großes Glück gehabt habe; die Rippen waren lediglich geprellt und nicht gebrochen und würden in ein, zwei Wochen wieder in Ordnung sein. Sie hatte viele geringfügige Abschürfungen und Quetschungen, die sie mit Antiseptika bemalten und mit Pflastern verklebten, bevor sie wieder abzogen.
Caxton zog die Straßenkleidung an, die der Chief ihr angeboten hatte und die nur etwas zu groß war, dann setzte sie sich mit einem großen gelben Block in den Pausenraum. Sie fing an, ihre Geschichte aufzuschreiben. Caxton war noch nie besonders gut darin gewesen, lange Berichte zu schreiben. Sie erinnerten sie immer an die Aufsätze ihres gescheiterten Collegeaufenthalts. Aber sie erzählte die Geschichte so schlicht und so detailliert, wie sie
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