Der letzte Vampir
erfuhr. »Es ist ein Zauber, vielleicht auch eine Art psychische Macht. Auf jeden Fall wird der Verstand vergewaltigt. Er stieß einen Teil von sich durch meine Augen in mich hinein und übernahm die völlige Kontrolle über meine Träume. Er konnte mich gegen meinen Willen einschlafen lassen, und er hielt mich nach Belieben in diesem Traumzustand und holte mich wieder heraus. Er zeigte mir eine Vision der Hölle, könnte man sagen, und wartete darauf, dass ich Selbstmord beging.«
»Hmmm«, machte Arkeley.
»Wollen Sie noch etwas hinzufügen?«, fragte sie.
Er erwiderte ihren Blick mit weit aufgerissenen Augen, als hätte sie den ihr zustehenden Rang vergessen. Vermutlich hatte sie noch nie zuvor in diesem Ton mit ihm gesprochen. Es weckte in ihr den Wunsch, selbst »Hmmm« zu sagen.
»Ich habe jeden Vampir, den ich getötet habe, genau untersucht«, erwiderte er. »Es ist von zentraler Bedeutung für den Fluch. In Europa war Selbstmord ein fraglicher Akt. Früher hat man Selbstmörder an Kreuzungen begraben, in dem Glauben, dass sich der Vampir verirren würde, wenn er auferstand, und den Heimweg nicht finden würde. Zu anderen Zeiten, an anderen Orten, hat man Selbstmörder mit abgeschnittenem Kopf und verkehrt herum begraben oder ihnen eine Kugel ins Herz geschossen.«
»Eine Silberkugel?«, fragte Clara.
»Das ist ein Mythos«, sagten Arkeley und Caxton gleichzeitig. Eine weitere Gelegenheit, einander anzustarren.
»Der Fluch treibt einen dazu, sich das Leben zu nehmen. Sobald sich der Gedanke in einem festgesetzt hat, nagt er an einem. Man denkt dann, dass alle Probleme verschwinden, wenn man tot ist. Das ist der letzte Schritt in der Veränderung, und er ist nötig. Er war da sehr entschieden.«
»Reyes hat vermutlich den gleichen Prozess durchgemacht«, meinte Arkeley betont neutral, nur auf die Fakten konzentriert. »Und Lares und Malvern vor ihm.«
Caxton schüttelte den Kopf. »Nein. Reyes ist ohne diesen ganzen Traum- und Magiescheiß ausgekommen. Er wollte ohnehin sterben. Malvern hat in seine Seele geschaut, und er hat Ja gesagt, so einfach war das. Congreve – das ist der Vampir, den wir zusammen getötet haben – benötigte drei Stunden, bis er überzeugt war. Reyes hat ihn und den anderen verwandelt, den mit den gekappten Ohren. Congreve war Bauarbeiter. Darum hat er diesen Ort für seinen Hinterhalt ausgewählt. Er hatte einen Abschluss in Musik der Renaissance, fand damit aber keinen Job, also endete er als Straßenbauarbeiter auf dem Highway. Er hat es gehasst, er hat alles an seinem Leben gehasst. Reyes machte sich das zunutze und überzeugte Congreve, sich das Hirn aus dem Schädel zu pusten. Es fiel Malvern zu schwer, glückliche, gesunde Menschen zu Vampiren zu machen, also hielt sie nach den echten Verlierern Ausschau. Leute, denen das Leben nichts zu bieten hatte.«
»Mein Gott«, sagte Clara und seufzte. »So fühle ich mich die Hälfte der Zeit.«
Arkeley ignorierte sie. »Der andere. Der mit den verstümmelten Ohren. Wissen Sie seinen Namen?«
Caxton dachte eine Sekunde lang nach. Sie biss sich auf die Lippe. Plötzlich wurde ihr völlig grundlos bewusst, dass Clara ihr vertraute und sie vermutlich nicht einmal zu hindern versuchen würde, wenn sie sich nach vorn lehnte, das Lenkrad packte und kräftig nach rechts zog. Sie fuhren am bewaldeten Ufer eines ausgetrockneten Flussbetts entlang, das beinahe zehn Meter tiefer lag. Der New Beetle würde wie eine Coladose zerknüllt, wenn er unten auf den Felsen prallte.
Sie setzte sich zurück, drückte die Knöchel gegen den Kopf und stieß den Gedanken weit von sich. Es war nicht ihr Gedanke, auch wenn er ihr wie jeder andere der Millionen Gedanken in ihrem Kopf vorkam. Es war Reyes, der Teil von Reyes, der ihren Verstand kolonisiert hatte. Sein Fluch versuchte sie noch immer zu vernichten.
»Scapegrace«, sagte sie, hustete den Namen förmlich aus. Sie musste darum kämpfen, dass Reyes ihn freigab, aber sobald sie den Namen hatte, kannte sie auch die ganze Geschichte. »Kevin Scapegrace. Er war sechzehn Jahre alt. Hochgewachsen, aber dürr, zu eingeschüchtert, um auf der High School vernünftige Noten zu bekommen. Die Kids in der Schule haben auf ihm herumgehackt. Einer von ihnen, ein älterer Junge, hat Kevin während des Sportunterrichts in der Dusche vergewaltigt. Kevin war ziemlich sicher, dass er davon schwul geworden ist, und er kam damit nicht klar.« Caxtons Mund verhärtete sich zu einem Strich. »Als Reyes ihn
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