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Der letzte Vorhang

Der letzte Vorhang

Titel: Der letzte Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Meyers
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einsparen. Diese Typen bekommen mehr als meine Tänzer. Das
Mindestgehalt der Schauspielergewerkschaft nimmt im Schneckentempo zu, und die
anderen Gewerkschaften überholen uns. Ein gewöhnlicher Souffleur, der sich in
den Kasten setzt und ein paar Stunden mitliest, ohne mit dem Herzen bei der
Show zu sein, bekommt mehr als unsere Leute, die sich die Seele aus dem Leib
tanzen.«
     
    »Sie wissen, Wetzon«, sagte Broker Hale Hamilton
in seinem gedehnten Südstaatentonfall, »daß ich richtig Glück gehabt habe im
Geschäft. Ich liebe Mutter Merrill, ich liebe meine Kunden, und ich danke für
Ihren Anruf, aber im Moment bin ich so glücklich wie ein Hund mit zwei
Schwänzen.«
    Wetzon legte auf. »So geht’s.« Sie wandte sich
nach ihrer Partnerin um, die gerade eine Deckschicht auf ihrem malvenfarbenen
Nagellack auftrug. »Hale Hamilton ist so glücklich wie ein Hund mit zwei
Schwänzen.«
    Smith hielt mitten in der Bewegung inne und
wandte ihren Kopf, so daß die dunklen Gläser Wetzon anstarrten.
    Wetzon fuhr fort: »Ich frage mich — bin ich auch
so glücklich wie ein Hund mit zwei Schwänzen?«
    Der Nagelpinsel fiel in die Flasche. Smith nahm
langsam die Brille ab. Die Haut um ihre Augen war nur noch ein wenig gelblich.
Etwas mehr Puder, und keinem, der es nicht wußte, würde es auffallen.
    Grinsend sagte Wetzon zu ihrer Partnerin:
»Willkommen unter uns Lebenden.« Dann: »Du auch?«
    »Was meinst du damit?« Smith wedelte die Finger
in der Luft, damit der Lack schneller trocknete.
    Wetzon ließ die Worte von der Zunge rollen; sie
berauschte sich förmlich daran. »Bist du auch so glücklich wie ein Hund mit
zwei Schwänzen?«
    »Ich glaube wirklich, du gibst dich mit dem
Abschaum der Erde ab.«
    »Ich? Du auch! Nach deinen eigenen unsterblichen
Worten verdienen wir unseren Lebensunterhalt, indem wir uns mit Abschaum
abgeben.«
    »Ich weiß nicht... vielleicht wäre es an der
Zeit für ein Ferienjahr.«
    »Im Ernst, Smith, Stunde der Wahrheit. Bist du
glücklich — wie ein Hund mit zwei Schwänzen oder sonstwie?«
    »Eigentlich nicht. Und du?«
    Wetzon schwieg nachdenklich. »Eigentlich nicht.
Ist das nicht seltsam? Wir beide haben genügend Geld, wir leiten eine
erfolgreiche Firma, die Leute bewundern uns, wir sind einigermaßen attraktiv,
du hast einen wunderbaren Sohn. Und wir sind nicht glücklich. Warum nur?«
    Smith seufzte. »Ich liebe Dick Hartmann«, sagte
sie sehr leise.
    »Aber...«
    Smith hob die Hand und zeigte Wetzon die
Handfläche. »Bitte keinen Kommentar.«
    Wetzon nickte. »Okay. Bin ich an der Reihe? Ich
komme mir vor wie Silvestris heimliche Geliebte, eine, die er nie seiner
Familie vorstellen wird.«
    Jetzt nickte Smith. »Wir brauchen etwas zum
Aufrichten.« Sie stand auf. »Es ist nach vier, gehen wir.«
    »Wohin?«
    »Hol deinen Mantel.« Smith schien es plötzlich
eilig zu haben; sie warf ihren legendären Nerz über und half Wetzon in den
Mantel.
    Die Dämmerung brach schnell herein, als sie auf
die Straße traten. Die Gebäude zeichneten sich scharf vor dem sich
verdunkelnden Himmel ab.
    »Wir müssen zu Fuß gehen«, sagte Smith, offenbar
von sich selbst begeistert. Übermütig, schon ein ganzes Stück vor Wetzon
herlaufend, hätte sie beinahe eine Frau, die zwei riesige Taschen mit dem
Aufdruck Saks schleppte, über den Haufen gerannt.
    Wetzon holte Smith an der Second Avenue ein.
»Warum haben wir es so eilig?«
    »Wir wollen nicht zu spät kommen.«
    »Ich komme mir vor, als wäre ich mit dem Weißen
Kaninchen unterwegs«, murmelte Wetzon und fiel wieder zurück, weil sie auch
diesmal vor Steve Sondheims Haus stehenbleiben, schwungvoll die Baskenmütze
ziehen und eine tiefe Verbeugung machen mußte.
    »Du meine Güte!« Der Schrei des Weißen
Kaninchens erreichte sie und zog sie vorwärts.
    »Saks? Wir gehen zu Saks?«
    Die Bürgersteige waren plötzlich voller
Menschen. Touristen aus aller Herren Länder, die Pendler aus den anderen
Stadtteilen und sogar einige Bewohner Manhattans schienen sich ein Stelldichein
zu geben.
    »Mach schnell«, sagte Smith.
    »Wo kommen die vielen Menschen her? Was wollen
sie?« Wetzon spürte, wie die erregte Stimmung allmählich auch sie erfaßte.
    In der Fifth Avenue standen die Massen vor den
Fenstern von Saks Schlange und hörten Schauspielern zu, die Kindergeschichten
vorlasen, während Zeichentrickfiguren in den Fenstern die Lesung illustrierten.
    Buchhändler stritten sich mit dem Nikolaus der
Heilsarmee um Platz. Glocken bimmelten leise

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