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Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glen Duncan
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Streifen auf, Bissen, Schlucke, Brocken. Das Leben der Arabella Marlowe, geborene Jackson. Sie hatte ihren Frieden mit sich gemacht, war durch die großen Mühen dorthin gelangt, Beschränkungen abzulegen. Doch noch immer gab es kurz aufflackernden Selbsthass –
Schlampe, Hure
 –, wie entferntes Wetterleuchten, das angesichts ihres größeren, weiseren, runderen menschlichen Ichs wirkungslos blieb. Erinnerungen: der Duft ihrer Mutter nach Mehl und Lavendel. Ein rotes, gepflügtes Feld unter einem blauen Himmel. Ein bemaltes Karussellpferd. Ein totes Opossum auf dem Hof. Ihre Gliedmaßen, die wuchsen. Das Auftauchen ihrer Brüste erfüllte sie mit mädchenhaftem Stolz. Die schockierende kleine Perle der Lust da unten.
Sag, liebst du mich? Ich weiß, du wirst’s bejahn, und will dem Worte traun
; ihr Vater besaß eine Shakespeare-Gesamtausgabe. Sie lernte Zeilen auswendig und versetzte sich in die Figuren. Es gab einen unvollständig zusammengezimmerten Vertrag zwischen Kunst und Gott. Sie zog die männliche Aufmerksamkeit auf sich. Ein- oder zweimal gab es bei einem Mann etwas Schüchternes, Wütendes, das darauf hindeutete, was Liebe wohl sein mochte, ein Index der ungeheuren Unzulänglichkeiten des Körpers. Sie entkleidete sich für Maler, Bildhauer, Liebhaber, lernte Poker spielen, ging eine raue Freundschaft mit dem Whisky ein. Sie kannte die Gefahren, und doch drängte sie hinaus in die Erfahrung, litt, fing Feuer, rollte sich im Staub, um sich selbst zu löschen. Sie drängte weiter und wurde krank. Lungenentzündung. Tante Eliza, die sie seit fünfzehn Jahren nicht gesehen hatte. Sie kam aus der Befragung durch den Tod mit der Erkenntnis heraus, dass sie niemals ganz so hellwach sein würde, wie sie es sich erträumt hatte. Dann Europa, die Schweiz, weiße Berge, ich. Liebe auf den ersten Blick.
    Ich schluckte alles hinunter, stahl den Reichtum, den man nie zählt, bis er einem genommen wird. Das alles ging in mich hinein, eine obszöne Bereicherung, ein Fest des feigen Profits. Sie kämpfte gegen mich, soweit sie konnte. Sie wollte leben. Sie wollte unmissverständlich leben. Sie konnte nicht schreien. Ich hatte ihr schon beim ersten Biss die Stimmbänder durchtrennt. Fünf Sekunden. Zehn. Zwanzig. Der Instinkt verrät einem, wenn sie dahinscheiden (gleich dem verwandten Instinkt, der einem sagt, wann sie kommen). Ich sah sie an, ließ sie mein Werwolfsgesicht sehen, dunkel von ihrem Blut, meine Fänge in ihren zerfetzten Schätzen. Sie war bereits über den Schmerz hinaus. Ihr Blick verriet, dass sie weitergegangen war und nun an der Reling stand und zum Pier zurückblickte. Einschiffung. Ich hätte sie niemals nicht lieben können, ohne jemand anderer zu werden. Aber ich war jemand anderer geworden. Sie blinzelte einmal müde. Ihre Lippen bewegten sich. Ein feuchter Brocken ihres eigenen rohen Fleischs blinkte rot auf ihren Wangen. Dunkelbraune Augen mit Goldflecken. »Ich gehe«, sagten diese Augen. Sie war jenseits ihrer alten Sprache: Mord, Moral, Gerechtigkeit, Schuld, Strafe, Rache waren wertlose Worte auf ihrer Reise. »Ach, so ist das«, sagten ihre Augen. Kurz bevor sie sich schlossen, machte Arabella den letzten Schritt: Am Ende des Lebens ist es einem egal, wie man zu Tode gekommen ist. Ich war nicht Jacob, nicht ihr Gatte, nicht ihr Mörder, kein Ungeheuer; ich war nur das Wesen, das die Tür geöffnet hatte. Jetzt sah sie durch mich und die Dinge dieser Welt hindurch in die finale, alles klärende Dunkelheit, ins alles auslöschende Licht. Ich war nicht mehr wichtig. Ihre Augen weiteten sich kurz und schlossen sich.
    Irgendwann im Kampf mussten wir auch gegen den Nachttisch gestoßen sein, denn die Lampe war zu Boden gefallen, war zerschlagen, das Öl vergossen, ein kleiner Flammenteich brannte. Einer der Bettvorhänge hatte Feuer gefangen. Das Feuer kletterte in gemütlichem Vollzug den Vorhang hinauf und wechselte auf den Nachbarn. Ich bemerkte die Hitze erst, als Arabellas Wärme vergangen war. Sind die Lichter des Körpers erst einmal verloschen, verrät der Hunger ein Gefühl von Abscheu, postkoital einsetzender Realismus vor dem endgültigen Vollzug des Akts. Du frisst schnell, wirst immer übellauniger, verachtest Gottes schöpferische Vulgarität, Bewusstsein an Fleisch zu fesseln. Du frisst schnell, weil der Ekel dir schon auf den Fersen ist. Und wenn er dich hat – dich packt wie der lange Arm der Justiz –, dann musst du aufhören, kannst nicht mehr weitermachen.
    Das Feuer

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