Der letzte Werwolf
getan?«, hatte Harley vor einer Stunde am Telefon gefragt.
»Es gab noch eine Lücke in den Aufzeichnungen«, antwortete ich. »Die habe ich gefüllt. Soll ich sie ans Postfach schicken oder in den Club?«
Harley verstand mich schon: Dieses Tagebuch sollte das Letzte sein. Keine Aufzeichnungen mehr, da kein Ich mehr. Kein guter Anfang für eine Unterhaltung. Ich stellte mir ihn vor, wie er die Augen schloss und die Zähne zusammenbiss, um nicht wieder davon anzufangen.
»Es ist alles bereit«, sagte er. »Ich kriege dich allerdings erst nach dem Siebzehnten außer Landes. Knapp, ich weiß, aber es gibt keine andere Möglichkeit. Du musst zwischen der City und Heathrow dreimal den Wagen wechseln. Du hast ein Ticket für die Virgin-Nachmittagsmaschine nach New York, auf den Namen Tom Carlyle. Das ist das Ablenkungsmanöver. In Wahrheit wirst du als Matt Arnold einen privaten Charterflug nach Exeter nehmen. Brandneue Ausweise. Reisepass, Führerschein, Versicherungsnummer, der ganze Quatsch. Von Exeter –«
»Ich gehe nach Wales, Harley.«
»Was?«
»Du hast mich gehört. Nach Snowdonia.«
»Sei nicht albern.«
»Ich gehe dorthin, wo ich hergekommen bin. Der Kreis schließt sich.«
Wieder verstummte Harley. Er zündete sich mühsam eine Zigarette an. »Von
Exeter
«, fuhr er leise fort, »hast du mehrere Möglichkeiten. Du kannst nach Palma fliegen, dann weiter nach Barcelona oder Madrid oder, falls du nicht wirklich sicher bist, sie abgeschüttelt zu haben, über zwei weitere Wagenwechsel von dort nach Plymouth. Reggie wartet dort bis Mitternacht des Siebzehnten. Er bringt dich über den Kanal, danach bist du auf dich selbst gestellt.«
»Gute Arbeit, Harls«, sagte ich. »Du bist der Größte.«
»Na gut, aber dann fang nicht mit diesem Wales-Scheiß an.«
Ich ließ es dabei bewenden. Er wusste es. Ich wusste, dass er es wusste. Er wusste, dass ich wusste, dass er es wusste. Ich stand am meerseitigen Wohnzimmerfenster und sah durch den Regen hinunter zur Bucht, und ich spürte, wie die vertraute Zuneigung zu ihm von Ungeduld angefressen wurde. Je länger ich mich daran klammerte, umso schlimmer würde es werden. Man kann nicht ausschließlich für jemand anderen leben, ohne diese Person früher oder später zu hassen. Ich wollte ihn fragen, wo er denn die neuen falschen Papiere deponieren wolle, doch er unterbrach mich.
»Ich gebe sie dir persönlich«, erklärte er. »Ich will keinen Reinfall.«
»Damit gehst du ein blödsinnig hohes Risiko ein.«
»Ich werde erst Ruhe haben, wenn ich sie dir persönlich in die Hand gedrückt habe. Lass es uns auf meine Art machen, Marlowe.«
Das war seine Einwilligung. Wenn du schon sterben sollst, dann will ich dich wenigstens noch einmal sehen. Ein letzter Händedruck vor dem Abgang.
»Gibt es noch was über Cloquet?«, fragte ich. Das war das erste Mal, dass ich an den jungen Mann mit der Magnum gedacht hatte, seit ich London verlassen hatte, doch jetzt, nachdem ich wieder darauf gekommen war, fühlte ich mich unwohl.
»Wir haben ihn laufenlassen«, antwortete Harley. »Er hat nichts in der Hand. Wir haben ihn verwanzt und zwei Tage lang beobachtet. Er hat sich ein wenig herumgetrieben, seine Hand gepflegt, die wir übrigens versorgt haben, und schließlich reuig bei Jacqueline Delon angerufen. Sie war wütend auf ihn, dass er dich verfolgt hat. Er erhielt den Befehl, das Hotel nicht zu verlassen, bis jemand von ihren Leuten kommen und ihn nach Paris zurückbringen würde. Vierundzwanzig Stunden später tauchten zwei Kerle auf – Delons Leute – und machten sich an die Arbeit. Fall abgeschlossen.«
»Weißt du, warum man den Ausdruck ›Fall abgeschlossen‹ erfunden hat?«
»Was?«
»Damit das Publikum weiß, dass dem nicht so ist.«
»Wie du meinst, Jacob. Du jagst einem Phantom hinterher. Dabei solltest du dir Sorgen wegen Ellis machen.«
»Nicht Grainer?«
»Grainer ist geduldig. Der kann bis zum Vollmond warten. Aber Ellis beobachtet dich und hat sonst überhaupt nichts zu tun … Außerdem hat er noch ein paar schießwütige Youngster bei sich.«
»Sie haben meinen Füchsen die Köpfe abgetrennt.«
»Was?«
»Vergiss es.«
»Sei vorsichtig, mehr sage ich nicht.«
Diese Nacht-und-Nebel-Arrangements, so überflüssig sie auch waren, wie wir beide wussten, waren also vorbereitet. Graham Greene hatte ein halb parodistisches Verhältnis zu den Genres, die er in seinen Romanen plünderte, eine ironische Toleranz ihrer Erfordernisse und Bilder. Es
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