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Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glen Duncan
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Fahrt damit, dieses Tagebuch auf den neuesten Stand zu bringen. Als ich in Bordeaux umstieg, entdeckte ich zwei WOKOP -Agenten, die in der Hauptstadt von zwei anderen abgelöst wurden. Mir war das völlig egal – na ja, vielleicht nicht ganz, schließlich hielt ihre Anwesenheit die Untoten in Schach. Natürlich beobachteten mich auch die Blutsauger, am Tag mit Hilfe von menschlichen Vertrauten, nachts in eigener Person. Eines Nachts gegen drei Uhr früh saß ich in einem Nachtclub am Montmartre und bestellte mir gerade einen Long Island Iced Tea, als mich eine Welle von Vampirgestank überfiel, dass mir übel wurde. Ich drehte mich um. Am anderen Ende der neonbeleuchteten Theke saß die blonde, blauäugige Mia und erhob lächelnd ihr Glas, offensichtlich eine Requisite. Ruhige, intelligent wirkende weiße Hände und ochsenblutroter Lippenstift. Eine betörend schöne Frau, die stank wie eine Jauchegrube und vergammeltes Fleisch. Man lernt die kognitive Dissonanz zu schätzen. Jedenfalls unternahm sie nichts. Ich blieb ein paar Tage in Paris, war so abgestumpft, dass ich dem Louvre nicht mal einen Abschiedsbesuch machte. Ich mietete mir eine rothaarige, athletisch gebaute Escortdame mit großem Busen und überraschte mich selbst mit der Vehemenz meines Orgasmus. Hinterher versuchte ich aus einer vermuteten Verbindung zwischen vulkanischem Ausbruch und Lebensbejahung heraus in mir ein Gefühl dafür zu wecken, noch am Leben zu sein. Ich scheiterte. Die Libido, so musste ich eingestehen, war eine einsame Kriegerin, die auf dem Schlachtfeld weiter um sich drosch, nachdem alle anderen bereits desertiert waren.
    Fünf Tage, nachdem ich im Frachtraum der
Hecate
aufgewacht war, nahm ich den Abendflug der British Airways von Charles de Gaulle nach London–Heathrow.
     
    Dort änderte sich alles –
alles.
     
    Herrgott, Jake, hör zu. Es –
    Ich weiß jetzt, was er sagen wollte.
    (»Und du glaubst nicht an das Schicksal«, fragte sie mich.
    »Ich glaube an alles, was du mir sagst«, antwortete ich.)
    Eine tolle Nummer aus dem Hause
Wenn & Dann
. Wenn ich statt der Eisenbahn vom Flughafen ein Taxi genommen hätte … Wenn ich nicht in der Ankunftshalle Zigaretten gekauft hätte … Wenn ich nicht den Zug nach Paris genommen hätte … Wenn ich nicht die Nacht in Arbonne verbracht hätte … Wenn, wenn, wenn. Ergibt man sich dem Determinismus, ist man von Anfang an angekettet. Vom Anfang des Universums. Von allem.
    (»Nicht, wenn es nach Steven Hawking geht«, sagte sie. »Ich hab mir diese Sendung auf PBS angeschaut. Er betrachtet die Raum-Zeit als eine vierdimensionale, in sich geschlossene Krümmung, wie die Oberfläche einer Kugel, ohne Anfang und Ende. Eine elegante Idee; trotzdem werde ich die traditionelle Vorstellung nicht los, so als würde die Raumzeit nur ein Dingsda sein, das in einem anderen Raum herumschwebt, in einer anderen Zeit.«
    »Komm her«, sagte ich. »Komm her.«)
    Sie stieg aus dem Zug, ich wollte gerade einsteigen. Drei Waggontüren weiter trat sie in hohen Stöckelschuhen auf den Bahnsteig und fand sich im nächsten Augenblick in der Obhut eines grobknochigen skandinavischen Pärchens wieder, das ihr aufhalf, nachdem sie unerklärlicherweise vor den beiden auf die Knie gegangen war.
    Für sie unerklärlich. Nicht für mich. Ich konnte ihr die Worte von den Lippen lesen: O mein Gott … O … Danke, danke, ja, es geht schon, ich weiß gar nicht, was passiert ist, ich bin ja so ungeschickt, vielen Dank – die riesigen Schweden oder Norweger oder Finnen in ihrem blonden Flaum halfen ihr mit sonnenverbrannter Freundlichkeit auf die Beine und reichten ihr Rollkoffer und Handtasche. Sie gab all diese Worte von sich, ja, aber ihr Blick wanderte irgendwohin, überallhin, verriet eine beherrschte Verwirrung, fast Panik, auf der Suche nach der Herkunft der Macht, die sie für einen Augenblick derart durcheinandergebracht hatte.
    Nach mir, anders gesagt.
    Herrgott, Jake, hör zu. Es gibt noch einen Werwolf.
    Eine Werwölfin.
    Ohne Vorbereitung. Ohne Vorwarnung. Mein ganzes Ich landete flach vor ihren Füßen, all meine verdauten Toten verstummten schockiert. Sie hatten angenommen, das Ende – Befreiung, letzte Auflösung, Frieden – sei nahe. Und nun das. Marlowe erwacht plötzlich in einer Welt, die nur so vor Erneuerung strotzt …
    In der Zwischenzeit stand sie mit feucht glänzendem Gesicht und erkennbar angespanntem Körper wieder auf den Beinen und ohne helfende Hand da und hielt ihre Handtasche

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