Der letzte Werwolf
zu, ging sie weg – aber nur, um sich in der Schlange vor dem Geldumtausch anzustellen. Sie war die Vierte in der Schlange.
»Dreh dich nicht um«, sagte ich leise. Ich drückte mir noch immer das Handy ans Ohr. Während der zwanzig Schritte, die ich brauchte, um zu ihr zu gelangen, hatte ich bemerkt, dass sie mein Kommen spürte, sich zwang ruhig zu bleiben und sich nicht umzudrehen. Hitze umgab sie wie eine flimmernde Aura. Ihr Duft war ein Ring durch meine Bullennüstern. Sie zitterte. Man musste ihr sehr nahe kommen, um das zu bemerken, in den Absätzen, an den Handgelenken, in den Haaren. Im allerletzten Augenblick hielt ich mich davor zurück, sie an den Hüften zu packen, meinen Unterleib gegen ihr Gesäß zu drücken, meine Hände auf ihre Brüste zu legen und meine Nase in ihrem Nacken zu vergraben.
»Ich weiß, was du bist, und du weißt, was ich bin. Hast du ein Handy?«
»Ja.«
»Gib mir die Nummer.«
Amerikanerin, wie mir der Akzent verriet, als sie mir die Nummer ohne Zögern aufsagte. Ich tippte die Nummer ein, speicherte oder wählte sie aber nicht. »Ich werde beobachtet«, erklärte ich ihr. »Und du auch, soweit ich weiß, also wechsel etwas Geld und geh dann in den Starbucks gleich gegenüber und warte auf meinen Anruf. Verstanden?«
»Ja.«
»Hab keine Angst.«
»Hab ich nicht.«
»Du spürst es auch, oder?«
»Ja.«
Eine große dunkle Welle der Erleichterung durchfuhr mich. Ich wurde fast ohnmächtig. Sie ging an den Wechselschalter und öffnete ihre Handtasche.
36 .
Keine Ahnung, ob das Handy sicher war. Außer zur Wiederholung von Harleys abgeschnittener Nachricht hatte ich es nicht benutzt, aber da Jacqueline Delon es in Händen gehabt hatte, musste ich davon ausgehen, dass es nicht mehr sicher war. Ich schrieb mir die Nummer auf den Handrücken und löschte sie vom Display. Am Wechselschalter ließ ich mir zehn Ein-Pfund-Münzen geben, dann ging ich an ein Münztelefon.
»Hallo?«, fragte sie.
»Ich kann dich sehen. Bist du in Hörweite der beiden Kerle mit den Rucksäcken?«
»Nein.«
»Okay, gut. Aber schau nicht allzu auffällig in meine Richtung.«
»Du warst auf dem Bahnsteig.«
»Ja, tut mir leid.«
»Ich hab’s gespürt. Das ist … Wer beobachtet dich?«
»Lange Geschichte. Nicht hier. Wohin fliegst du?«
»Nach New York.«
»Nach Hause?«
»Ja.«
»Wann geht dein Flug?«
»Elf Uhr dreißig.« Sie wagte einen direkten Blickkontakt. Unsere Blicke kreuzten sich. Wir blieben für einen Augenblick stumm, weil dieser Blick nur bestätigte, dass wir uns dem Unvermeidlichen hingaben. »Ich kann den Flieger sausen lassen«, bot sie an.
Du spürst es auch, oder? Ja.
Nicht nur der vorweggenommene sexuelle Schluss, sondern die Verklärung des Alltäglichen. Gepäckwagen, Informationstafeln, Airlinelogos, hässliche Familien, jedes kleinste Atom wirkte prachtvoll.
Ich kann den Flieger auch sausen lassen
. Gegenseitige Gewissheit verkürzt das Reden, und das war unsere gekürzte Rede. Sie würde einfach nicht ins Flugzeug steigen. All das, was in mir selbstsüchtig und schwach war, lastete schwer auf dem Wenigen, dass nicht so war. Sie würde sich ein Zimmer in einem Flughafenhotel nehmen. Ich würde den Vampir und den Jäger abschütteln. Ich würde auf das Zimmer gehen. Sie würde auf dem Bett sitzen, wenn ich hereinkam. Sie würde aufblicken.
»Das ist nicht sicher«, entgegnete ich. »Wir müssen erst herausfinden, ob sie hinter dir her sind.«
»Dieser schwarze Kerl da oben«, sagte sie. »Da ist etwas –«
»Er ist ein Vampir.«
Ein weiteres erstes Mal, wie mir ihr Gesicht und ihr Schweigen verriet. Aber auch nach einem kurzen Augenblick: Warum nicht? Natürlich Vampire,
was sonst
? Sie hatte gelernt, dass die Welt diese urplötzlichen konvulsivischen Zuckungen machte, um einer willkürlich verfluchten Elite deren Absonderlichkeit vorzuführen. In der Zwischenzeit ging alles wie gewohnt weiter, Bloomingdale’s und
Desperate Housewives
und Weihnachten und die Regierung. Auch sie machte in ihrer außergewöhnlichen Doppelform weiter. Ich konnte das an ihren angespannten Schultern, ihrem geröteten Gesicht und der Sorgfalt erkennen, mit der sie ihr Make-up ausbesserte. Dieser unbelohnte Mut, das besondere Ausmaß ihrer Entschlossenheit, trotz alledem, trotz der Tatsache, ein Ungeheuer zu sein, nicht zusammenzubrechen, tat mir im Herzen weh. Es tat mir im Herzen weh (ach, das Herz war hellwach, es stand aufrecht), dass sie ganz allein hatte mutig sein
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