Der letzte Werwolf
bremste am Chiswick Roundabout, die Ampel sprang auf Grün, das Taxi schoss hinüber. Es fing an zu regnen. Wenn der Blutsauger ein Flieger war, dann wurde er da oben nass und fror.
»Ich verstehe immer noch nicht, warum ich wegfliegen soll«, beharrte sie. »Warum kann ich nicht einfach hier in ein Hotel?«
»Dieses Land ist zu klein. Du musst mir vertrauen. Ich mache das schon eine Weile.«
»Wie lange denn?«
»Auch nicht ratsam.«
»Du bist alt, oder?«
»Ja.«
Pause. Ihr ging langsam auf, was es hieß, Antworten zu finden. Ohne sie war Weitermachen nur blinder Reflex. Mit ihnen war es eine wohlüberlegte Entscheidung. Ein Werwolf aus freiem Entschluss, sozusagen.
»Wie lange werde ich leben?«
»Lange.«
»Hundert Jahre?«
»Mit einer Vier davor.«
Stille. Ich konnte spüren, wie sie versuchte, sich die ungeheure logische Fortsetzung der Gegenwart (Science-Fiction, Microsoft, Weltraumprogramm) in die Zukunft vorzustellen. Unmöglich: Logische Fortsetzung genügt da nicht. Jeder weiß, dass es bis in die ferne Zukunft unvorstellbare, vielleicht sogar komödiantische Sprünge geben wird.
»Aber du wirst dich äußerlich nicht verändern«, fügte ich hinzu. »Hilft das?«
Darauf gab sie keine Antwort. Plötzlich traf mich das ganze Gewicht ihrer Einsamkeit –
ihrer
Einsamkeit wohlgemerkt, nicht meiner.
Mein Dad lebt noch, aber das würde ihn umbringen
. Seit neun Monaten durchlitt sie das nun schon. Immer wieder entdeckt man Dreijährige, Vierjährige, die zu Hause tagelang überlebt und sich von Zucker, Ketchup, Butter ernährt hatten. Man mochte sich gar nicht ausmalen, was sie durchgemacht hatten. Sie waren einem irgendwie unangenehm. Es sei denn, man hatte das selbst durchgemacht. Es sei denn, man war selbst eines von ihnen.
»Verdammt«, verkündete sie. »Ich muss einchecken. Wenn ich wirklich abfliege.«
»Tu es. Nicht vergessen: öffentliche Plätze des Nachts, okay?«
»Und einen Ex anrufen, bei dem ich am Tag schlafen kann.«
»Ich meine es ernst.«
»Okay, aber je länger du brauchst, um zu mir zu kommen, um so länger muss ich jemand anderen ranlassen.«
»Ich hab’s mir anders überlegt«, sagte ich. »Schlaf in der Stadtbücherei. Trink Kaffee. Nimm Aufputschmittel.«
»Ich weiß nicht mal, wie du heißt.«
Pseudonyme flogen auf wie ein Wirbelwind aus toten Blättern mit mir im Zentrum.
»Jake«, sagte ich.
»Du hast Glück. Jake ist ein schöner Name.«
»Und du?«
Pause, dann: »Na, damit wir es hinter uns haben. Ich heiße Talulla.«
Ich darf mich nicht in eine Frau verlieben, denn am Ende werde ich sie umbringen.
Nicht, wenn sie eine Werwölfin ist
.
Ich habe die Umstände nicht erfunden. Ich bin an sie gekettet.
Es lag kein sonderlicher Reiz darin, es mit dem Vampir aufzunehmen. Schon gar nicht mit meinem neuen Anspruch, am Leben bleiben zu wollen. Da war es einfacher, bis Sonnenaufgang zu warten, wenn er die Schicht mit seinem menschlichen Vertreter tauschen musste. Also ließ ich mich am
Caliban
absetzen, einem Nachtclub auf der Oxford Street (der zufälligerweise einem meiner Tochterunternehmen gehörte), warf dort hastig eingekaufte Amphetamine ein und blieb dort hocken, bis ich gegen fünf Uhr bei
Mikhail
in Holborn ein paar Eier Benedict frühstückte (meine erste Mahlzeit seit jenem deprimierenden Dinner for One im Bauch der
Hecate
); dann war es sechs, und ein Audi mit verspiegelten Schei- ben rollte heran, um den Vampir abzuholen und durch ein paar Vertreter zu ersetzen. Auch der Verfolger der WOKOP war ausgetauscht worden. An seiner Stelle waren nun drei Mann, soweit ich feststellen konnte. Langsam wurde es lachhaft. Ich verließ das Café, kaufte mir am Zeitungsstand eine Schachtel Camel und ging zum Trafalgar Square. London lief bereits auf Hochtouren. Es hatte aufgehört zu regnen, und der Himmel war absurd hübsch, eine Schicht aus aufgerissenen, wolligen, mehligen Wolken, die die aufgehende Sonne rosig und pfirsichfarben einfärbte. Nur die Jungen, die Verrückten und die frisch Verliebten bemerkten das. Der Rest der Bewohner bahnte sich mit gesenktem Kopf und unter Tränen den Weg in einen neuen Tag voller Neurosen.
Ich kaufte mir ein neues Handy und rief Christian im Zetter an. Ich brauchte einen Haarschnitt, eine Massage, eine heiße Dusche und ein wenig Zeit und Raum, um mich auf das mühsame Geschäft des Fluchtkünstlers vorzubereiten.
38 .
Talulla, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden … Ta-lu-la: Die Zunge machte drei
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