Der letzte Werwolf
müssen.
»Ist dir schlecht geworden?«, fragte ich.
»Immer noch ein bisschen.«
»Wann fing das an?«
»Als ich zum Ticketschalter wollte.«
»Davor nicht?«
»Nein.«
»Noch nie?«
»So noch nicht, nein.«
Gut. Wenn sie noch nie zuvor einem Vampir begegnet war, dann standen die Chancen gut, dass der Blutsauger da oben allein für Jacob Marlowe bestimmt war. Bei ihrem Geruch musste es dem Vampir den Magen umdrehen, aber da er nicht wusste, dass ein weiterer Mondjauler anwesend war, würde er mir das zuschreiben.
»Schau nicht hin, bis ich es sage«, ermahnte ich sie. »Unter den Anzeigetafeln zu deiner Linken steht ein Bruce Willis-Typ in brauner Lederjacke und einem weißen T-Shirt. Ich muss wissen, ob du ihn schon jemals gesehen hast. Okay, jetzt.«
»Den kenne ich nicht«, meinte sie. »Wer ist das?«
»Du hast keine Ahnung von der WOKOP , richtig?«
»Wovon?«
»Das ist eine Organisation, die – ach, es gibt so viel zu erklären. Im Augenblick musst du nur wissen, dass das keine Freunde von uns sind. Vampire auch nicht. Wir müssen vorsichtig sein.«
Schweigen. »Ich werde das Flugzeug nicht nehmen«, sagte sie dann.
Das zwang mich, selber einen Blick zu riskieren. Sie starrte mich hellwach an. Was immer sonst noch war, sie war zumindest erleichtert, eine Rechtfertigung all der Stunden und Tage wütenden Beharrens gefunden zu haben: Du bist
nicht
allein. Die Leichtigkeit, mit der ich hätte auflegen, zu ihr hingehen und sie in die Arme nehmen können, war eine teuflisch vernünftige Versuchung. Ich sah es schon vor mir, spürte ihren geschmeidigen, nachgiebigen Körper. Ich weiß, was du bist, und du weißt, was ich bin.
»Ich
möchte
nicht, dass du den Flieger nimmst«, erklärte ich. »Aber wir müssen uns sicher sein, dass die nichts von dir wissen.« Schon waren wir ›wir‹. Natürlich waren wir das.
»Warst du das in der Wüste?«, fragte sie.
»Was?«
»In Kalifornien. Vor neun Monaten. Als ich angegriffen wurde. Warst du das?«
Ich hatte die Akte gesehen. Ende Juni 2008 hatte die Jagdgesellschaft den Werwolf Alfonse Mackar in der Mojave-Wüste getötet. Danach hatte es in den Büchern der WOKOP nur noch Wolfgang und mich gegeben. Dachten sie.
»Nein, das war ich nicht.«
Sie biss sich einen Augenblick in die Wange. »Nein, du warst das nicht. Ich … spüre es.« Eine Mischung aus Freude, peinlicher Berührtheit, Erleichterung. Plötzlich, mit uns zweien im selben Raum, und sei es eine derart freudlose Umgebung wie eine Abflughalle, fühlte sie alles Mögliche. Ich auch. Die Intimität war buchstäblich lachhaft. Lachen war lachhafterweise eine Möglichkeit.
»Wie viele gibt es – von uns?« Sie hatte Mühe zu entscheiden, welche Frage sie zuerst stellen sollte, nun, da sie möglicherweise Antworten bekam.
»Ich sollte eigentlich der Letzte sein«, antwortete ich. »Nun gibt es noch dich. Ich weiß nicht wie. Ich weiß nicht, was das bedeutet.« Wir schauten weg, dann schauten wir uns wieder an, weg, wieder an. Es war hypnotisch. Für sie und für mich war da das unbestimmte Wissen von all den Dingen, die wir aus absoluter Gewissheit heraus nicht sagen mussten, so als ob ganze Seiten aus unserem Filmskript –
Ich kann einfach nicht glauben, was hier passiert … Vom ersten Augenblick an wusste ich …
– auf dem Teleprompter vorbeizogen, den wir beide ignorierten.
»Ich kann jetzt nicht abfliegen«, sagte sie. »Das kannst du nicht von mir verlangen. Das wäre lächerlich.«
Stellen Sie sich vor, ich wäre vor einhundertsiebenundsechzig Jahren einem Vertreter meiner Art an einem Bahnhof begegnet. Jemand, der seine
Times
sinken ließ, über den Brillenrand schaute und zu mir sagte: ›Ja, ich weiß, aber Sie müssen noch warten.‹
»Ich weiß, das ist schwer für dich«, erwiderte ich. »Für mich auch –« wieder trafen sich unsere Blicke, und da war noch immer diese unglaubliche gegenseitige Transparenz, diese wahnwitzige gemeinsame Sache – »aber es gibt keine andere Möglichkeit, um sicherzugehen. Bitte vertrau mir. Ich will nur wissen, dass du in Sicherheit bist.«
»Was wollen die von dir? Von uns.«
Ich erzählte ihr, was ich wusste, ließ alles irgendwie Nebensächliche aus. Helios, die Vampire, der Virus. Sie hörte mit leichtem Stirnrunzeln und einem Arm um sich geschlungen zu. Sie hätte genauso gut eine junge Mutter sein können, die davon erfährt, dass ihr Kind sich in der Schule danebenbenommen hat. Das dunkle Haar umrahmte ihr Gesicht mit zwei
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