Der letzte Werwolf
hast keinen Handyempfang, du hast seit über einer Stunde kein anderes Auto mehr gesehen, und außerdem ist das hier Amerika, du solltest also besser nicht damit rechnen, dass ein anderes Auto vorbeikommt.‹ Noch einen.«
Ich schenkte nach. Wieder das Ansetzen des Glases, die Kehle, das Heben der Brüste, die Perlen.
»Du hättest dumm und hässlich sein können«, sagte ich, als sie sich den Mund abwischte.
»Du aber auch.«
»Wenn wir das beide wären, wäre das schon okay. Ungleichheit schafft erst Probleme.«
»Und was, wenn ich klug und hässlich gewesen wäre?«
»Zu Anfang furchtbar, auf lange Sicht besser. Dumm und schön, da hätte ich dich vielleicht am Ende umgebracht. Wahrscheinlich eher du mich. Erzähl weiter. Du bist gerade in der Mitte von Nirgendwo liegen geblieben.«
Talulla stellte das Glas auf den Nachttisch, legte sich auf die Seite, stützte sich auf einen Ellbogen und sah mich an. Wir hatten die erste zauberhafte Welle hinter uns, verriet mir ihr Blick. Nun setzte nüchterne Erleichterung ein, gab es die ersten Schatten des Realismus. »Ich war zwei, drei Meilen zuvor an einem Kuhkaff vorbeigekommen«, erzählte sie weiter. »Ein Diner, ein Laden, eine Handvoll Häuser. Ich war mir ziemlich sicher, auch eine Autowerkstatt gesehen zu haben. Zumindest würde es dort ein Telefon geben. Ich würde AAA anrufen und das war’s dann. Also ging ich los. Ich muss vielleicht eine halbe Meile weit gekommen sein, als der Hubschrauber auftauchte.«
Ich besah mir ihre Hand, genoss den Gedanken an dessen Geschichte, erfreute mich in jener belanglosen Art, in der man in solchen Augenblicken denkt, an der Tatsache, dass dies ihre Hand war. Fest, mit langen unlackierten Fingernägeln. Am Mittelfinger trug sie einen großen Opalring. Als sie sich mit gesundem, geschicktem, amerikanischem Anrecht an die Klitoris fasste, brachte mich der Anblick dieses beringten Fingers, der mit schlauer Zielstrebigkeit durch das weiche dunkle Haar ihres Venushügels fuhr, fast um den Verstand.
»Er tauchte knapp fünfzig Meter entfernt auf, wohl aus einer Schlucht. Ich dachte, es müsse sich um Polizei handeln, wegen des Suchscheinwerfers. Offenbar waren das deine WOKOP -Leute.«
»Die Jagdgesellschaft.«
»Genau. Jedenfalls ging das alles rasend schnell. Ich konnte sehen, dass sie jemanden oder etwas verfolgten, aber nicht, was. Es war vollkommen bizarr, da zu stehen und plötzlich keinerlei Kategorie mehr zu haben, in die ich dieses Erlebnis einordnen konnte. Deshalb blieb ich einfach wie eine Idiotin da stehen. Dann schwenkte der Suchscheinwerfer und blendete mich, und plötzlich, wie aus dem Nichts, traf mich der Werwolf.«
Ich dachte an die Akte, die ich gelesen hatte. Hatte da etwas über einen Zeugen gestanden? Nein. Gott sei Dank.
»Einen Biss kann man das kaum nennen. Eher ein Kratzer mit den Zähnen. Eigentlich hat er mich nur umgerannt. Schaden richteten nur die Klauen an. Ich weiß noch, dass ich in dem Sekundenbruchteil dachte: Himmel, es gibt tatsächlich Werwölfe. Man sollte meinen, ich hätte einen Schock gekriegt, habe ich aber nicht. Ich schätze, wenn man so was zig Mal im Kino gesehen hat … Ich hatte einen großen Kratzer an der Brust und einen an der Wange. Das ging so schnell, wie ein riesiges Feuerwerk mitten im Gesicht. Dann war er verschwunden. Ich habe noch nie etwas sich so schnell bewegen sehen. Hatte, meine ich. Heutzutage bin ich selber ziemlich schnell.«
Mal sehen, wie schnell, hätte ich beinahe gesagt, verkniff es mir aber. Wir hätten uns sonst beide unwohl gefühlt.
»Dann war es auch schon vorbei«, fuhr sie fort. »Der Hubschrauber war weg, und ich war wieder ganz allein in völliger Stille. Ich ging etwa zwanzig Schritte weiter, wohl unter Schock. Dann fand ich den Pfeil.«
»Welchen Pfeil?«
»Den für den Werwolf, aber mich hatten sie getroffen. Im Oberschenkel. Wohl ein Betäubungsmittel, denn im nächsten Augenblick gingen bei mir die Lichter aus.«
»Hast du ihn behalten?«
»Das wäre klug gewesen, stimmt’s? Aber wenn du so etwas in dir stecken findest, dann ziehst du es raus und wirfst es fort. Oder du tust es, wenn du dumm bist. So wie ich.«
Pfeile? Das war doch die Jagdgesellschaft. Die schießen nicht mit Pfeilen, die töten. Sie
enthaupten
. Alfonse Mackar war auf Ellis’ Liste. Grainer war in Kanada hinter Wolfgang her. Stand in den Akten irgendwas von Pfeilen, um ihn einzufangen? Daran konnte ich mich nicht erinnern.
»Keine Ahnung, wie lange ich k.o.
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