Der letzte Werwolf
war«, erzählte sie. »Als ich aufwachte, war es noch immer dunkel, aber der Mond stand höher. Ich war auch nicht mehr dort, wo ich umgefallen war. Ich muss wohl ein Stück gekrochen sein, nehme ich an. Ich kehrte zur Straße zurück und ging die zwei Meilen nach Arlette. Ich habe ernsthaft geglaubt, ich sei gestorben, und das sei nun das Leben nach dem Tod. Als ich in das Dorf kam, fingen die Wunden bereits an zu verheilen. Am nächsten Morgen war nichts mehr da, nicht die Spur einer Verletzung. Aber das weißt du ja alles selber. Ab und zu spüre ich noch einen kleinen Schmerz in der Brust. So als ob da ein Splitter stecken würde. Himmel, der Tequila geht mir ganz schön in die Beine.«
Dann gab es einen Augenblick, in dem Manhattan zur Ruhe kam und all sein glitzerndes Bewusstsein auf uns richtete. Ich spürte die Dimensionen des Hotelzimmers, der Straßen, der ausgefransten Ränder der Metropole, die in Freeways übergingen, dahinter die erneut hoffnungsvollen riesigen Weiten des Landes. Und wir lagen hier gemeinsam im Bett, warm wie ein Topf sonnendurchfluteten Honigs. Mit geringster Anstrengung hätte ich mich ganz dem Frieden hingeben können. Doch nachdem wir die erste Runde Sex hinter uns gebracht hatten, pochten all die vermaledeiten Fragen.
»Die Infektion«, sagte Talulla mit leicht telepathischem Einschlag. »Warum ausgerechnet ich und jetzt, nach hundertfünfzig Jahren, wie du gesagt hast?«
Bau eine Festung. Wachen. Eine ganze Armee von Hunden. Die Opfer werden geholt, bezahlt, ausgetrickst. Wir müssten nie wieder hinaus. Ich entwarf diese Phantasievorstellung, dann noch ein paar weitere, spürte, wie sinnlos sie waren, hörte die Kräfte der Welt, wie ein Milliarden Mann starkes Orchester beim Stimmen der Instrumente. Warum hatten sie mit Pfeilen auf Alfonse Mackar geschossen?
»Keine Ahnung«, antwortete ich. »Meine Informationen sind die der WOKOP . Sie sind hier die Amtsgewalt, zumindest waren sie das. Die Ansteckung soll angeblich durch einen Virus unterbrochen worden sein, was entweder bedeutet, der Virus ist abgestorben oder du bist immun. Ist an dir irgendetwas medizinisch Besonderes, das ich wissen sollte?«
»Nichts. Ich kriege Heuschnupfen und bin gegen Mandeln allergisch. Das war’s schon.«
»Es muss etwas geben. Aber das ist nicht unsere Hauptsorge. Unsere Hauptsorge ist … Nun, es gibt mehrere.«
»Jetzt nicht, bitte. Gib mir noch einen.«
Talulla musste ein paar Telefonate führen; ich ging ins Bad (vor drei Jahren war ihre Mutter an Darmkrebs gestorben, und Talulla hatte begonnen, die Firma mit ihrem Vater – in letzter Zeit anstelle ihres Vaters – zu führen. Bis ›es‹ geschah. Zwei Monate danach hatte sie eine Betriebsleitung engagiert, die vielseitige Alison, um sich davon frei zu machen). »Schätzchen, hör einfach nicht auf ihn«, konnte ich Talulla sagen hören, wohl über den störrischen Nikolai. »Ich hab ihm gesagt, er ist raus aus der Nummer. Das tut er nur, weil er weiß, dass es dich ärgert.« Ich lag nackt auf dem Badezimmerboden. Kalter Marmor und das Sternenlicht der eingebauten Halogenlampen. Die Dinge hatten mich eingeholt. Vor allem meine komplette Umkehr. Das Universum, sagte ich mir, verlangt eine Art von Abmachung, also triff eine. In meinem Fall war das ein Leben ohne Liebe gewesen.
Ohne
Liebe. Einhundertsiebenundsechzig Jahre lang. War es lächerlich, jetzt von Liebe zu sprechen? Nein. Oder nur in dem Wittgenstein’schen Sinne, dass es stets lächerlich ist, von Liebe zu sprechen. Alles war beim Alten, und alles hatte sich geändert. Draußen bewiesen die Stadt und der Verkehr, die Millionen menschlicher Augen und sprechender Münder und die schlauen, durchtrainierten, an ihre Tätigkeiten gewöhnten Hände: Das willkürliche Epos der Gewöhnlichkeit geht weiter. Ein gottloses Universum wild um sich schlagender Möglichkeiten – nun gepaart mit der urkomischen Tatsache, darin nicht allein zu sein (plötzlich und schuldbewusst vermisste ich Harley). Dank der Artverwandtschaft – tatsächlich stellten wir die gesamte Art dar – hatten wir die Phase ungläubiger Freude hinter uns gelassen und waren gleich zu tiefsitzender gegenseitiger Abhängigkeit übergegangen. Wir hatten keine Wahl. Ich war für sie, sie für mich.
Wolf
verheiratete uns, segnete uns, legte seine Arme um uns wie ein verstunkener, versoffener Pfarrer. Was hatte ich über Arabella geschrieben? »Wir hätten gemeinsam getötet, und wir wären
gut
darin gewesen.« Ja, und
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