Der letzte Werwolf
rollenden Nachthimmel mit einer gestockten, von hinten beleuchteten grau und stahlblauen Wolkendecke, die an manchen Stellen aufbrach. Im Zug roch es nach Filterkaffee und Klimaanlage. »Du bist 1808 geboren worden – das ich so etwas mal sagen würde, hätte ich nie gedacht –, und nun sind zweihundert Jahre vergangen. Es muss doch Fragen gegeben haben, auf die du Antworten gesucht hast.«
Über solche vergangenen Dinge konnten wir reden. Über
Vergangenes
.
»Es wurde leichter«, antwortete ich. »Heute ist es so leicht wie nie, wenn man Geld hat. Es geht nur ums Geld. Im Prinzip ist es immer dasselbe: Man bezahlt Spezialisten in der Manipulation der Identitätstechnik. Früher waren das mal alte Kerle in Kellerlöchern, mit Lupen und Tinten, Druckplatten und Pressen, heute sind es junge Burschen in großen Wohnungen mit Computern. Das ist der erste Schritt, das simple Geschäft, sich eine falsche Geburtsurkunde zu kaufen, einen falschen Pass, Führerschein, Sozialversicherungsnummer. Du wärest überrascht, wie weit man damit schon kommt: Bankkonten, Kreditkarten, Hypotheken, Kredite, Investment-Portfolios. Für eine normale Lebensspanne mehr als ausreichend. Bei mehreren Lebensspannen wird das schwieriger. Ich kann gar nicht glauben, was ich beim ersten Mal getan habe. Ich kann nicht glauben, dass ich wirklich dachte, ich könnte einfach so weitermachen.«
»Was hast du denn gemacht?«
»Ich wurde mein eigener Sohn.«
»Heiliger Bimbam.«
»Jacob Marlowe ›senior‹ zog sich 1850 mit zweiundvierzig Jahren völlig aus dem Leben zurück, sozusagen. Länger ging es nicht; meine Umwelt bekam langsam mit, dass ich überhaupt nicht älter zu werden schien.«
Talulla neben mir schauderte es.
»Was ist?«
»Du. 1850 . Erst denke ich, ich habe mich daran gewöhnt, und dann so etwas.«
»Um ehrlich zu sein, erinnere ich mich kaum noch an 1850 . Dickens veröffentlichte
David Copperfield
. Wordsworth starb. Lass mich mal nachdenken.«
»Ich meine nicht die großen Dinge, sondern das Alltägliche. Ein Butler, der sich die Hände wärmt. Diese großen, klammen Häuser. Ein Hut auf einem Stuhl.« Sie versuchte an eine Zeit zu denken, in der die Gegenwart für sie so weit zurückliegt wie 1850 für mich. Sie spürte den Hauch, den Zeitschatten der fernen Zukunft: eine kalte Strömung. Sie zitterte, drehte sich zu mir um, legte ihr rechtes Bein über meine Hüfte. »Erzähl weiter. Jacob Marlowe senior.«
»Jacob Marlowe senior wurde zum Einsiedel – oder Einsiedler? Ich sollte so etwas langsam wissen.«
»Liebling, das interessiert doch niemanden. Erzähl weiter.«
»Der Senior wurde zum Einsiedler – er zog sich 1850 vollkommen zurück. Nicht in England, sondern an einem geheimen Ort, den nur meine Anwälte kannten. Ich war eh nur noch selten dort. Das konnte ich nicht riskieren.«
Weil man nicht zu viele Opfer an einem Ort hinterlassen darf, wie du weißt
. Sie spürte, wie wir uns kurz duckten, um dieser aktuellen Frage zu entgehen, wie ein Drache am Himmel, der kurz absackt. »All seine wirtschaftlichen Entscheidungen wurden von dazu autorisierten Vertretern und Anwälten erledigt, die seine Anweisungen schriftlich erhielten. Ich hatte Codes, Passwörter, Verschlüsselungen, all den Kram. Ein gefährliches Arrangement. Drohende katastrophale Verluste, weil Nachrichten nicht schnell genug vorankamen. Die Telegraphie war eine große Erleichterung. Telefon – na, kannst du dir ja denken. Kurze Zeit, nachdem ich England verließ, ›heiratete‹ ich und bekam kaum ein Jahr später einen ›Sohn‹, Jacob junior. Alles erfunden. Ein neues Testament wurde aufgesetzt – Jacob junior sollte alles erben – erledigt. Jetzt musste ich mich nur noch von all denen fernhalten, die mich kannten.«
»Machst du Witze?«
»Nein. Vergiss nicht, damals war es leichter, sich nicht blicken zu lassen: Die Fotografie steckte noch in den Kinderschuhen. Kein Fernsehen, keine Überwachungskameras. Mit einem halben Dutzend falscher Namen kam ich fünfunddreißig Jahre lang durch ganz Europa und in die USA . Wie gesagt, ich hatte Geld. Geld und Mobilität, so geht das.«
»Ach, übrigens noch mal vielen Dank für die zwanzig Millionen. Noch so ein Satz, von dem ich nie gedacht hätte, ihn jemals auszusprechen.«
»Gern geschehen.«
»Und die fiktive Frau?«
Wieder sackte der Drachen ab. Die fiktive Frau gemahnte an die echte. Der aphrodisische Kick, der uns die Zwangslage von Arabellas Geist verpasst hatte, der zuschauen
Weitere Kostenlose Bücher