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Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glen Duncan
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Fotos, ein leichtes Anschwellen der Wangen, der Mund, der für einen kurzen Augenblick führungslos ist. Das ist natürlich sexuell ansprechend, ein Hauch von Evas Gesicht, die Lippen noch feucht vom Saft der verbotenen Frucht.
    Also blieb die Obszönität verhängt. Noch.
    »Das ist gut«, meinte Talulla. »Das bedeutet, dass wir uns nicht vor einer ganzen Art fürchten müssen.« Sie trug ein graues wollenes Strickkleid, schwarze Nylons und kniehohe schwarze Lederstiefel. Die Weichheit des Kleides und die Härte der Stiefel waren wie die Weichheit des Oberschenkels und die Härte der Hüfte. Keine elegante, anzügliche Spielerei, sondern ein solider Instinkt für sexuelle Akzente. Wir hatten die Mondphase schon halb hinter uns, und ihr Duft gab bereits dunklere Noten frei. Unter dem bittersüßen Glanz des Chanel No.  19 gab ihre immer stärker auftauchende wölfische Schwester eine hohe, dichtgepackte Note räuberischen Wissens von sich. Hitze umpulste sie. Der Hunger war ein zweiter Herzschlag ganz weit unter ihrem eigenen. Die kommenden zwölf Tage würden die Geschichte seines Aufstiegs sein. In uns beiden. Gleichzeitig.
    »Ja«, sagte ich. »Besteht nur die Gefahr, dass dieser Blödmann plappert. Es schien ganz so, als sei das seine erste Begegnung mit einem Werwolf gewesen. Eine Erfahrung, die er mit seinen Artgenossen besprechen will. Wenn sich andere Vampire hier in der Stadt rumtreiben, die davon wissen, dann gibt es keinen Grund, warum sie sich nicht an uns ranmachen sollten. Nach dem Essen erzählt er seine Werwolfgeschichte zur Verdauung, und schon haben wir sie am Hals. Nein. Wir müssen weg.«
    »Jetzt? Heute Nacht?«
    »Hältst du das aus?«
    Sie stand auf, kam zu mir neben dem Sekretär herüber, schlang ihre Arme um mich, küsste mich.
    »Wir sollten nicht zusammen reisen«, erklärte ich ohne große Überzeugungskraft.
    »Sei nicht albern.«
    »Noch wissen die nichts von dir. Wenn die dich aufspüren, weil –«
    »Diese Zeiten sind vorüber. Jetzt heißt es du und ich. Das ist alles.«
    Ich weiß, es mag lächerlich klingen, aber ich weiß bereits, dass es niemals einen Augenblick geben wird, an dem meine Hände auf ihr nicht die Gewissheit meines Todes abmildern werden. Das Gefühl ihrer Taille zwischen meinen Händen ist von jener tiefen Geometrie, die einen vorwärts- oder zurücktreibt, vorbei an den persönlichen Belanglosigkeiten hinein ins Reich des Absoluten, ins Reich der Seele, könnte man sagen, wenn einem klarwird, dass man langsam nicht mehr alle Murmeln beisammen hat. Talulla in Armen zu halten ist eine Art Keats’scher Dualität von Schönheit und Wahrheit. Ich weiß nicht, was ich damit machen soll. Ich weiß, dass man damit nichts anfangen kann. Man kann nur darin leben und geschehen lassen, was eben geschieht.
    »Wir könnten noch eine halbe Stunde warten«, sagte ich und fuhr mit den Händen auf ihren festen Hintern.
    »Ist das immer so schlimm?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Beeil dich«, forderte sie mich auf. »Hart und schnell. Bitte.«
     
    Wir verließen New York ohne große Diskussion noch in jener Nacht (Taxi zur Grand Central, Amtrak-Schlafwagen nach Chicago). Sie wusste, dass ich vorgesorgt hatte, alle Einzelheiten durchzusprechen wäre aber dem Werwolfanstand nach vulgär gewesen. Stattdessen umgingen wir unsere riesige Hässlichkeit, unseren unverzeihlichen Endpunkt, waren schmutzig bereichert, wie belästigte Kinder, weil wir alles wussten und nichts sagten. War Talulla geistesabwesend, konnte ich erkennen, dass sie noch immer angewidert war, trotz der Monate gewalttätiger Selbsttaufe. Sie hatte sich im Blut verhärtet, aber noch waren nicht alle zarten Reste abgestorben. Sie war ein Ungeheuer, ja, aber alles, was sie verloren hatte, überfiel sie immer noch, richtete ihren Blick auf ihre Kindheit, zwang sie hinzuschauen. Es führt kein Weg zurück (
Thomas Wolfe
, Himmel, wie viel denn noch?). Es tut weh, sehr weh. Die kleine Lula mit der hohen Stirn und dem Schönheitsfleck wurde von allen geliebt. Werwolf zu werden hätte sie von alldem abschneiden müssen, hatte es aber nicht getan. Die Identität blieb beharrlich. Es war, als würde man von einem unschuldigen Kind misshandelt.
    »Wie kommst du mit der Tatsache zurecht, dass du schon mehrmals hättest tot sein sollen?«, fragte sie. Für alle, außer frisch Verliebten, wäre das ein Meter breite Bett im Schlafwagen eine Strafe gewesen. Die Vorhänge des kleinen Fensters waren offen und enthüllten einen

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