Der letzte Werwolf
sterben“, übersetzte Dorian, nachdem Phil über die ersten beiden Wörter nicht hinausgekommen war. „Was zögerst du, Leser? Sei eingedenk, dass auch du sterblich bist.“
Valentina, die unterdessen nach dem Grab der Gräfin gesucht hatte, winkte die beiden zu sich.
Dorian wandte sich um. Stumm las er die Gravur mit dem Namen und dem Sterbedatum seiner Großmutter. Mit einer tiefen Verneigung stellte er seine Kerze auf das Sims unterhalb der Grabplatte und kniete sich auf den kalten Steinboden. Dann faltete er die Hände und schloss die Augen.
Valentina und Phil platzierten ihre Kerzen neben der seinen und blieben neben ihrem in sich versunkenen Freund stehen. Valentina versuchte, sich auf Margareta von Treuenstein zu konzentrieren, so wie ihnen aufgetragen war.
Phil hingegen konnte keinen klaren Gedanken fassen. Dieser dunkle Ort der Toten mit seiner bleiernen Stille bereitete ihm Unbehagen. Um dem bedrückenden Gefühl zu entrinnen, richtete er sein Augenmerk ganz auf die züngelnden Kerzenflammen. Doch mit einem Mal geschah etwas Merkwürdiges. Alles außerhalb der Lichter schien mit jedem Atemzug mehr und mehr in der Schwärze des Raums zu versickern, dann flossen die Feuerzungen plötzlich ineinander und formten sich zu einem Rund, aus dem schließlich eine brennende Lilie wuchs. „Das Zeichen“, hauchte er und suchte am Gesicht seiner Schwester zu erkennen, ob sie dasselbe wahrnahm. Obwohl Valentina schwieg, schloss er aus ihrer bestürzten Miene, dass sie seine Vision teilen musste. Wie gebannt starrte er auf die Lichterscheinung, die ganz allmählich ihre Gestalt veränderte. Die Lilie in der Mitte des Kreises streckte sich und gerann zu einem Dolch. Der Liliendolch, schoss es ihm durch den Kopf. In eben diesem Moment bewegte sich Dorian und öffnete die Augen. Fast gleichzeitig sackte das Feuerbild in sich zusammen, und die Flammen verteilten sich wieder auf die drei Kerzen.
Dorian stand auf und blickte, wie aus tiefem Schlaf erwacht, um sich.
Valentina schlang die Arme um den Körper. „Ich will hier raus!“ Ohne auf die Antwort ihrer Begleiter zu warten, stürzte sie aus der Grabkapelle.
Valentina lehnte kreidebleich an der Kirchenmauer, als kurz darauf hinter Phil und Dorian die Seitentür ins Schloss fiel. Noch immer sprach das Grauen aus ihren Augen.
„Dann hast du den Dolch also auch gesehen“, sagte Phil.
Seine Schwester stöhnte. „Ich glaub, ich steh das nicht durch. Erst dieser geisterhafte Besuch bei Madame Céline, dann diese …“, sie schluckte, „diese Halluzination. Ich glaub allmählich, ich bin ein Fall für die Klappsmühle!“
Dorian starrte auf seine Fußspitzen. „Mir war, als spräche sie zu mir, die liebe grand-mère“, sagte er leise. „So klar und deutlich gab sie mir die Weisung, den Liliendolch zu finden, mit dem die Frau Mama den Werwolf dereinst traf.“
Phil schüttelte den Kopf. „Das alles ist doch der helle Wahnsinn. – Selbst wenn wir keiner Halluzination aufgesessen sind – nennen wir es eben eine Vision. Aber rein praktisch stellt sich doch die Frage: Wo sollten wir den Dolch nach so langer Zeit bloß auftreiben.“
„Im Hause meiner Kindertage.“
„Im Treuenstein-Palais?“
Dorian nickte.
Valentina stieß sich von der Wand ab. „Na toll! Wollt ihr wirklich nach dieser Vision suchen? Das Palais hat mindestens zweitausend Quadratmeter. Da können wir …“
„Wart mal!“, fiel ihr Phil ins Wort. „Im Museumstrakt waren doch früher die Privatzimmer der gräflichen Familie. Vielleicht finden wir dort, was wir suchen. Die Vitrinen haben wir uns noch nie genau angesehen. Wäre doch irgendwie logisch, wenn der Dolch dort wäre.“
Valentina runzelte die Stirn. „Logisch – Mann, das ist ja wohl kaum das richtige Wort.“
„Den Geschehnissen liegt eine eigene Logik zugrunde, die zu erschließen uns obliegt“, sagte Dorian.
Valentina zuckte ergeben mit den Schultern. „Das stimmt wohl. – Von mir aus, ich hab auch keine bessere Idee. Am Mittwoch ist dein Vorspiel bei Professor Lauterbach, danach können wir ja mal das Museum unter die Lupe nehmen. Aber …“
Das Klingeln ihres Handys unterbrach das Gespräch.
„Isolde“, erklärte sie auf die fragenden Blicke ihrer Gefährten, als sie nach einem kurzen Telefonat das Handy wegsteckte. „Wir sollen ihr vom Markt Tomaten mitbringen. Sie möchte Couscous machen und hat vergessen, welche zu besorgen.“
Noch ganz unter dem Eindruck der jüngsten Erlebnisse umrundeten
Weitere Kostenlose Bücher