Der letzte Werwolf
zu lenken, und besann sich des Zaubermittels, das nach Dorians Worten alle Bangigkeit verscheuchte. Leise summte sie das kleine musikalische Thema, über das sie heute improvisiert hatten. Sogleich fiel alles von ihr ab, und die Schwärze der Angst wich der Morgenröte Hoffnung.
Isolde saß, die Brille auf der Nase, am Frühstückstisch und las Zeitung, als Phil in die Küche kam. „Ach, du bist's“, sagte sie und blickte hoch. „Die anderen sind noch nicht aufgetaucht.“ Sie deutete auf den Artikel, der sie gerade beschäftigte. „ Klaukinder in den Straßen unserer Stadt “, las sie. „Genau, was du neulich gesagt hast. Erschütternd. Stell dir das mal vor! Oftmals schicken die Eltern ihre Kinder sogar selbst mit diesen Verbrechern ins Ausland und kassieren auch noch Geld dafür. Die bedauernswerten Kreaturen werden wie Sklaven gehalten und müssen ihre Beute bis auf den letzten Cent abliefern.“ Ihre Stirn kräuselte sich. „Hier steht, letzten Dienstag hat es zwanzig Anzeigen gegen Unbekannt gegeben, alles Taschendiebstähle. Auf dem Markt und in der Fußgängerzone. Dabei ist bestimmt nicht jedes Opfer zur Polizei gelaufen. – Ihr ja auch nicht.“
„Hat ja auch keinen Sinn.“ Phil zuckte mit den Schultern. „Jedenfalls sollte man heute Abend die Augen aufhalten.“
„Hier bei unserem schönen Sonnwendfest?“, sagte seine Großmutter entsetzt.
„Ich wette, dass die heute unterwegs sind.“ Er goss sich ein Glas Orangensaft ein und dachte, dass er diese Wette ganz bestimmt gewinnen würde.
Dorian trat ein und ließ sich kraftlos am Tisch nieder. „Ich wünsche einen guten Morgen.“
Verwundert über den kurzen Gruß und die schwache Stimme, mit der ihr Gast gesprochen hatte, nahm Isolde die Brille ab und musterte ihn kritisch. Auch Phil fiel jetzt auf, dass Dorian heute noch blasser aussah als gewöhnlich.
„Fehlt dir was?“, erkundigte sich seine Großmutter. „Du bist ja kreidebleich.“
„Fürwahr, ich fühle mich ein wenig unwohl.“ Dorian rieb sich die Stirn. „Mich schmerzt das Haupt und mir ist etwas bleu mourant.“
„Wenn dir flau ist, mach ich dir rasch einen Kamillentee“, sagte Isolde und sprang auf. Sie füllte den Kocher gerade mit Wasser, als ihre Enkelin erschien. „Unserem Gast geht es heute nicht gut“, empfing sie Valentina. „Hoffentlich hat er sich nichts eingefangen.“
Valentina sah Dorian erschrocken an. Irgendetwas an ihm war anders als sonst. Seine Haut wirkte blutleer und kalkig, sein blondes Haar kam ihr heute eigenartig farblos vor.
„Sorgen Sie sich nicht, liebes Mademoisellchen“, sagte er, als er ihren bekümmerten Blick wahrnahm. „Nur eine Unpässlichkeit, es hat nichts zu bedeuten.“
Isolde stellte eine Tasse mit einem Teebeutel vor ihn hin. „Lass ihn noch fünf Minuten ziehen!“ Sie wandte sich zu Valentina. „Du weißt, wo die Kopfschmerztabletten sind. In einer Viertelstunde hab ich einen Friseurtermin, danach muss ich noch ein paar Besorgungen machen. Um fünf kommt Ursula. Geht bitte vorher mit Herrn Bozzi zum Fest rüber, damit ich ihn nicht einsperren muss. – Das Programm beginnt übrigens ab fünf. Wir treffen uns dann um halb neun beim Bierausschank, Karl kommt auch hin.“
Sie beendete den Wortschwall mit einem besorgten Blick auf Dorian, der matt auf den Teebeutel starrte. „Willst du dich nicht lieber ins Bett legen?“
Dorian rang sich ein verbeugendes Nicken ab. „Seien Sie ganz sans soucis, verehrte Madame.“
Alles andere als unbesorgt sah Isolde auf die Küchenuhr. Valentina nickte ihr zu. „Geh nur, wir kommen zurecht.“
Als ihre Großmutter die Küche verlassen hatte, fischte Valentina den Teebeutel aus Dorians Tasse. „Was ist mit dir?“, erkundigte sie sich bang.
„Des Mondes Kraft hat seine Wirkung nicht verloren“, sagte Dorian und nippte müde an dem Tee. „Mein Leib wandelt sich allemal, wenn das Tier erwacht. An jenen Tagen fühle ich mich stets siech und ohne Kraft, bis die Wandlung vollzogen ist, wie ich mich nun wieder peinvoll entsinne.“
Fassungsloses Schweigen folgte seinen Worten. Dorian blickte von einem zum anderen. „Dies, liebe Freunde, haben wir indessen nicht bedacht.“
„Wow!“, brach es aus Phil.
„Heißt das …?“ Valentina schwieg, sie wagte sich gar nicht vorzustellen, was für Konsequenzen es hatte, wenn sich Dorian in einen Wolf verwandelte. Und sofort schoss die verstörende Frage durch ihren Kopf. Würde er am Ende in der Tiergestalt gefangen bleiben? War
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