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Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Titel: Der letzte Weynfeldt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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kam ihm die Wahl des Tisches plötzlich etwas anzüglich vor. Er überlegte, ob er um einen Tausch bitten sollte, fand aber keine plausible Begründung dafür und verzichtete.
    Er war zwanzig Minuten zu früh. Fünf davon waren von der Reserve übriggeblieben, die er für die Fahrt eingerechnet hatte, die anderen fünfzehn bildeten die übliche Viertelstunde, die er als Gastgeber vorher da zu sein pflegte, für den Fall, dass ein Gast zu früh eintraf. Er bestellte ein Glas Sherry und richtete sich darauf ein, nach Ablauf seiner Viertelstunde ihre Viertelstunde verstreichen zu lassen.
    Als beide um waren, bestellte er beim immer wieder nach seinen Wünschen fragenden Kellner einen zweiten Sherry. Eine halbe Stunde Verspätung lag bei einer Dame noch im Bereich des Unerwähnenswerten. Aber dennoch begann Adrian unruhig zu werden. Zweimal stand er auf für den unwahrscheinlichen Fall, dass Lorena eingetroffen war und seinen Tisch nicht fand. Noch vor Ablauf der unerwähnenswerten halben Stunde begann er sich Szenarien auszudenken. Sie hatte den Namen des Restaurants vergessen und konnte ihn nicht anrufen, weil er Idiot kein Handy besaß. Sie hatte den Namen des Restaurants nicht vergessen, stand aber in einem Stau und konnte nicht anrufen, weil sie ihr Handy vergessen hatte. Weil sie vergessen hatte, ihr Handy zu laden. Weil ihr Handy keinen Kredit mehr hatte. Sie hatte den Tag verwechselt und wollte morgen pünktlich erscheinen. Oder er! Er hatte den Tag verwechselt!
    Er hätte sich im Spotlight in ihrer Nähe aufhalten können, als sie der Verkäuferin sagte, an welche Adresse sie die Bluse liefern sollten. Aber das war nicht sein Stil. Wenn sie wollte, dass er ihre Adresse besaß, würde sie sie ihm geben, hatte er gedacht.
    Nach Ablauf der dreißig Minuten Überfälligkeit begann er sich Sorgen zu machen. Immerhin war Lorena suizidgefährdet, wie er auf drastische Weise hatte erfahren müssen.
    Aber selbst in diesem Fall hätte sie ihn sitzenlassen. Gibt es eine radikalere Art, jemanden sitzenzulassen, als sich das Leben zu nehmen?
    Er bestellte noch einen Sherry und spürte in sich das alte, fast vergessene Gefühl aufsteigen, sitzengelassen worden zu sein. Es hatte ihn seit seiner Jugend verschont. Das Gefühl, verlassen zu werden, hatte ihn länger begleitet. Es ließ ihn stundenlang im Bett heulen, wenn die Eltern ausgegangen waren, vergeblich getröstet von einer überforderten Nanny. Es plagte ihn in den verschiedenen Internaten, in die er geschickt wurde. Und es streckte ihn nieder, als Daphne die Koffer packte.
    Aber das Gefühl des Sitzengelassenwerdens war anders. Nicht so einschneidend, aber demütigend. Während die meisten Verlassenen ununterbrochen über ihr Schicksal sprechen, schweigen sich die Sitzengelassenen verschämt darüber aus.
    Adrian war jetzt doch froh, dass er einen Tisch reserviert hatte, der von den übrigen Gästen nicht so leicht zu beobachten war. Er hatte keine Lust, vor großem Publikum den Sitzengelassenen zu geben. Wie lange wartet der noch, bis er sich eingesteht, dass man ihn sitzengelassen hat? Und was tut er?
    Eine Stunde nach der verabredeten Zeit entschloss sich Weynfeldt: Er ließ das zweite Gedeck abräumen, aß etwas Kleines pro forma und hinterließ ein Trinkgeld, das den entgangenen Gewinn aus dem zweiten Gedeck mehr als wettmachte.
    Auf der Heimfahrt im Taxi spürte er, dass aus diesem Tag doch noch ein Zeitlupentag geworden war.

12
     
    Sobald sie die Augen öffnete, würde sie sich mit den Gegebenheiten befassen müssen. Deshalb hielt sie sie geschlossen. Sie spürte das Gefühl, das Champagner nach der Euphorie und vor dem Kater hinterließ. Man konnte es mit etwas mehr Champagner vertreiben, mit Alka-Seltzer oder einfach nur mit viel Wasser lindern, oder man konnte es wegschlafen.
    Am liebsten würde sie es wegschlafen.
    Aber nun begannen sich ihre Augen von selbst zu öffnen. Wie bei großer Müdigkeit, wenn sie zufallen, taten sie jetzt das Gegenteil. Es kostete Lorena Mühe, sie entspannt zuzubehalten. Natürlich könnte sie sie zusammenkneifen, aber dann sah man ihr an, dass sie wach war. Das wollte sie nicht.
    Sie wünschte sich, er wäre einer der Männer, die, wenn sie erwachte, nicht mehr da sind. Das war zwar manchmal etwas verletzend, aber meistens auch sehr angenehm. Es blieb einem erspart, zu erfahren, wie sie nüchtern und bei Tageslicht aussahen.
    Aber dieser hier wollte mehr von ihr, als er schon bekommen hatte. Sie wusste noch nicht genau, was,

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