Der letzte Weynfeldt (German Edition)
aber mehr, da war sie sich sicher.
Er hatte die Lieferung der Ungaro-Bluse telefonisch angekündigt und war dann persönlich gekommen. War vor der Tür gestanden, in der Rechten die Tragetasche von Spotlight, in der Linken zwei vor Kälte beschlagene Flaschen Champagner. Sie konnte nicht anders als ihn hereinbitten.
Er sah ihre Wohnung – Einzimmerstudio mit Kochnische und Bad, überall Umzugskartons, die meisten davon geöffnet, weil sie aus ihnen lebte – und wusste Bescheid: »Gratuliere, ich war sehr beeindruckt.«
Sie wusch zwei Gläser, nicht ausgesprochene Champagnerkelche, und sie tranken den Veuve Cliquot, nicht gerade ihre Marke, solange er noch kalt war. Eis hatte sie keines, und der kleine vollgestopfte Kühlschrank war hoffnungslos überfordert.
Er war amüsant. Beschrieb genau, wie sie das Kleid hatte verschwinden lassen, und parodierte ihren Auftritt mit Weynfeldt. Er sah auf eine etwas gewöhnliche Weise gut aus, besaß die richtige Dosis Unverschämtheit, und sie brauchte ihm nichts vorzumachen.
Es fiel ihm nicht schwer, sie ins Bett zu bekommen, es war die einzige Sitzgelegenheit.
Sie sagte noch: »Aber in einer Stunde bin ich verabredet.«
Und er: »Mit ihm?«
»Ja.«
»Lass ihn sitzen.«
»Ich rufe ihn kurz an und sage ab.«
»Ich habe ihn beobachtet: Der frisst dir aus der Hand.«
»Darum ruf ich ihn an, damit er es weiterhin tut.«
»Falsch. Nicht anrufen, damit er es weiterhin tut.«
13
Die Pisten über den Hotelpalästen und Appartementhäusern waren braungrün bis auf ein paar Schneeflecken in den schattigen Mulden. Aber der See war zugefroren und der Himmel wolkenlos. Hinter der Tribüne war eine Zeltstadt aufgebaut. Weiße Plastikzelte mit spitzen Giebeln, die Weynfeldt an eine etwas orientalische Version der Plastikgartenlauben erinnerten, die seit einigen Jahren die Schrebergärten und Dachterrassen des Landes heimsuchten.
Seit frühester Jugend war das Engadin für Adrian Weynfeldt Heimat. Alle Winterferien und einen Teil der Sommerferien hatte er hier oben verlebt, und als Teenager hatte er auch ein paar Schuljahre in einer internationalen Internatsschule in der Nähe verbracht.
Die Landschaft war ihm immer so vertraut gewesen, dass er sie nie als besonders schön empfunden hatte. Erst als er sie mit den Augen von Giovanni Segantini sah, offenbarte sich ihm ihre Schönheit. Sein Vater besaß einige Landschaften von Segantini. Adrian hatte die Bilder Hunderte Male betrachtet, aber erst als er zwölf oder dreizehn war, erkannte er eine der Landschaften wieder – die Aussicht von seinem Hotelzimmer in den Ferien. Doch sein Vater musste ihn beiläufig darauf aufmerksam machen, bis er sie erkannte. So anders sah sie aus, obwohl jede Einzelheit vorhanden war.
Von da an begann er sich die Dinge, die er sah, gemalt vorzustellen. Die Landschaften, dann die Interieurs, die Menschen und die Stillleben. Zuerst von Segantini, danach von anderen Malern aus seines Vaters Sammlung.
Was als Spiel begann, wurde nach und nach zur Manie und zu Weynfeldts Art, die Welt zu sehen. Er besuchte nach der Matura die Kunstgewerbeschule, musste allerdings bald einsehen, dass er den Mangel an Talent auch mit noch so viel Eifer nicht wettmachen konnte. So war es gekommen, dass er sich mit Kunsthistoriker hatte begnügen müssen.
Das Bild, das er in diesem Moment vor sich sah, ließ sich nicht einmal durch die Frage retten, wie es wohl von Segantini gemalt aussehen würde. Er saß auf einem mit weißem Kunstpelz bezogenen Plastikstuhl unter künstlichen Palmen im Kreise der üblichen Runde, alle aus dem Umfeld der direkten Nachkommen des Freundeskreises seiner Eltern:
Karl Stauber, Seniorchef einer alten Schweizer Handelsgesellschaft, mit seiner Frau Senta, einer in jungen Jahren lebenslustigen, temperamentvollen Person, heute ein graues, unscheinbares Mütterchen, dessen Haare stumpf und brüchig waren von seiner langwierigen, von der Familie mit wenig Geduld ertragenen und mit großem Aufwand vertuschten Krankheit: Seit ihrem vierzigsten Lebensjahr war Senta Stauber Alkoholikerin.
Charlotte Capaul, die dritte Frau von Dr. Capaul, dem Hausarzt fast aller Anwesenden. Sie war ein verträumtes, kindliches, durchsichtiges Geschöpf, Mitte dreißig und damit über dreißig Jahre jünger als ihr Mann, der auch in jeder anderen Hinsicht schlecht zu ihr passte.
Kurt Weller, der Sohn von Max Weller, dem Mann, der die internationalen Transporte für Weynfeldt & Cie. erledigt hatte, ein waschechter
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