Der letzte Weynfeldt (German Edition)
schnoddrige Empfangsdame führte Lorena ins Wartezimmer. Sie setzte sich und begann in der schon etwas zerfledderten Tageszeitung zu blättern.
Dort stieß sie wieder auf das Foto von sich. Im Artikel ging es diesmal nicht um die Eröffnung der Motorradmesse, sondern um »Das Frauenbild in der Welt der zweirädrigen Boliden«. Sie las den kritischen Artikel sehr genau. Auch in diesem kam sie nicht vor.
Sie stand auf, hinterließ der Empfangsdame, wohin ihr Chef sich ihr Honorar stecken solle, und ging.
Das passierte ihr immer wieder. Der Hang zur großen Geste. Hinschmeißen und alle zum Teufel schicken und dann dastehen mit der großen Frage: Was nun?
Auf dem Trottoir stöckelte Lorena durch die Vormittagspassanten, Rentnerinnen mit Einkaufswägelchen, Mütter mit Kinderwagen, Arbeitslose, Schüler, Vertreter, Tramführer vor oder nach der Ablösung. Aus den offenen Türen eines Supermarkts drang der Geruch von Frischgebackenem und geschmolzenem Käse. Sie ging hinein und sah sich zwischen den Imbissständen nach einem Geldautomaten um. Sie fand einen und hatte Glück: Er war nicht von ihrer Bank. Das hieß, der Computer wusste womöglich nicht, dass ihr Konto hoffnungslos überzogen war, und ließ sich vielleicht ein paar Hunderter entlocken.
Lorena steckte ihre Karte in den Schlitz und tippte den Code ein. Sie spürte, dass dicht hinter ihr jemand stand. Sie drehte sich um und sah einem dicklichen jungen Mann mit schlechter Haut ins Gesicht. Er starrte sie ausdruckslos an. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, ein paar Schritte zurückzutreten?« Sie deutete auf einen Strich am Boden. »Diskretlinie« stand daneben.
Er rührte sich nicht, deutete nur mit dem Kinn zum Geldautomaten. Auf dem Display stand »Karte eingezogen«.
»Scheiße«, stieß sie aus und ging. Es gelang ihr nicht ganz, das dreckige Grinsen des Pickelgesichts zu ignorieren.
Sie kaufte sich einen Kaffee und ein Croissant an einem der Imbissstände, für mehr reichte das Geld nicht. Sie suchte mit dem Tablett in der Hand nach einem freien Tisch und fand endlich einen etwas abseits von den anderen. Aber kaum hatte sie sich eingerichtet, kam eine alte Frau und setzte sich dazu. Auch sie trug ein Tablett mit einem Kaffee und einem Croissant. Daneben hatte sie ein rotes Portemonnaie, eine Brille und die Gratiszeitung mit Lorenas Bild gelegt.
Lorena sah nicht auf. Alte Frauen in Supermarkt-Imbissen konnten sehr gesprächig sein.
Aber die hier war es offenbar nicht. Sie setzte die Brille auf und begann die Zeitung zu lesen. Ab und zu tauchte sie ihr Croissant in den Milchkaffe, biss das triefende, schlappe Stück ab und kaute es hörbar.
Plötzlich sagte sie: »Könnten Sie kurz ein Auge auf meine Sachen haben, ich muss schnell verschwinden.« Ohne Lorenas Antwort abzuwarten, stand sie auf und entfernte sich.
Die Brille und die Zeitung hatte sie liegenlassen. Das rote Portemonnaie auch.
Lorena sah sich unauffällig um. Der nächste Tisch stand einige Meter entfernt. Eine Gruppe Schüler aß dort ihr Junkfood. Vor einem Pizzastand in der Nähe hatte sich eine kleine Schlange gebildet. Niemand beachtete Lorena.
Sie nahm das Portemonnaie, als gehörte es ihr. Sie klappte es auf und öffnete das Notenfach. Ein paar Zehner und Zwanziger befanden sich darin. Sie nahm vierzig Franken heraus. Erst jetzt sah sie das Foto, das hinter einem abgewetzten Klarsichtfenster steckte. Es zeigte den jungen Bob Dylan.
Die alte Frau mochte etwas über siebzig sein. Eine normale alte Frau in etwas Großgeblümtem, das sie für diesen beklemmenden Sommertag vorzeitig aus dem Schrank geholt hatte. Sie trug eine Brille, die ihre Augen ein wenig vergrößerten, ihr Haar war grau und ungepflegt.
Und sie war ein Bob-Dylan-Fan. Wie alt war sie, als Dylan ein junger Rockstar war? Um die dreißig. Jünger als Lorena heute.
Sie stellte sich die Alte als junge Frau vor. Bei Open-Air-Festivals. Mit einem Joint. Oben ohne und ein Peace-Zeichen auf der Stirn. Eine junge Frau mit Träumen und Idealen, wie sie selbst sie auch besessen hatte.
Tierärztin. Keine Kleintierklinik mit Wellensittichen und Zwergpinschern. Große Tiere. Pferde, vielleicht auch Kühe. Tierärztin auf dem Land mit einem Landrover, der es auch im tiefsten Winter bis zu den abgelegensten Höfen schafft. Oder noch größer: Zootiere. Elefanten, Nashörner, Giraffen, Hippos.
Bis in die Uni hatte Lorena den Traum verfolgt. Zwei Semester, knapp. Und nebenbei ein wenig gemodelt. Und auch ein bisschen
Weitere Kostenlose Bücher