Der letzte Weynfeldt (German Edition)
Alka-Seltzer, das ihm Frau Hauser wortlos zum Orangensaft servierte.
Erst kurz nach zehn traf er im Büro ein. Auch Véronique empfing ihn mit der demonstrativen Diskretion, die er an diesem viel zu warmen Morgen so schlecht ertrug.
»Sie hat wieder angerufen«, sagte sie als Erstes.
»Wer sie?«
»Die, die dich letztes Mal im Agustoni erreicht hat. Lorena, ihren Nachnamen sagte sie nicht.«
Adrian war sofort hellwach. »Was hat sie gesagt?«
»Du sollst dir ein Handy anschaffen, es gebe schon welche ab einem Franken. Sie spendiere ihn dir. Ich habe ihr recht gegeben.«
»Hat sie eine Nummer hinterlassen?«
»Nein, sie versuche es später nochmals.«
Er ging in sein Büro, schloss die Tür und versuchte sich mit etwas zu beschäftigen.
Nach kurzer Zeit ertönte Véroniques angedeutetes Klopfen, und schon stand sie im Türrahmen. »Ich geh dann schnell runter, nimmst du die Anrufe?« Es war keine Bitte. Er war ihr das durch sein Zuspätkommen schuldig.
Kaum war sie gegangen, klingelte das Telefon. »›Murphy’s‹, Adrian Weynfeldt, guten Tag«, meldete sich Adrian.
»Der Chef persönlich«, sagte Lorenas Stimme. »Hast du heute Abend schon etwas vor?«
»Nein«, antwortete er, obwohl er vorgehabt hatte, Mereth Widler einen Kondolenzbesuch abzustatten.
»Lädst du mich zum Essen ein? Diesmal komme ich.«
Adrian konnte nicht gleich antworten, so überrascht war er.
»Hallo, bist du noch da?«
»Ja, klar, bin noch da, gerne. Wieder im Châteaubriand?«
»Lieber bei dir zu Hause. Geht halb acht?«
»Halb acht? Doch, ja, geht gut. Halb acht bei mir.«
»Dann bis dann. Ciao.«
»Ja, bis dann. Moment!«
»Ja?«
»Was isst du gerne?«
»Ich mag diese einfachen, teuren Sachen.«
»Zum Beispiel?«
»Kaviar, Kobe-Steak, so Sachen halt.« Sie lachte und legte auf.
Er stand von seinem Stuhl auf, ging zum Fenster und öffnete es, Klimaanlage hin oder her.
Der Himmel über dem spiegelnden See war von einem tiefen, frischen Blau, das er sonst nur vom Engadin kannte. Die Alpenkette lag da wie von Hodler gemalt. Die Autos und Trams unter ihm glitzerten in der Sonne wie gepflegte Spielsachen. Und die Fußgänger schlenderten über die Trottoirs wie an einem hohen Feiertag. Weynfeldt atmete tief ein und lächelte auf diese Bilderbuchwelt hinunter. Dann schloss er das Fenster, rief Frau Hauser an und bat sie, für heute Abend ein paar einfache Sachen nach seinen Angaben vorzubereiten.
Ungeduldig erwartete er Véronique. Als sie endlich mit einer schwarzen, mit einem einzigen neongrünen thailändischen Schriftzeichen verzierten Tragetasche zurückkam, verabschiedete er sich. Er sei nicht sicher, wann und ob er am Nachmittag zurückkomme, ließ er sie wissen. Dann mischte er sich unter die glücklichen Passanten auf der Straße. Als vielleicht einer der glücklichsten.
Heute war Donnerstagstisch. Aber er hatte davor noch eine Verabredung. Kando, Claudios Freundin, hatte ihn angerufen und gebeten, sie um halb zwölf im Südflügel, einer angesagten Bar ganz in der Nähe des Agustoni, zu treffen. Es handle sich um eine Überraschung. Weynfeldt ging davon aus, dass es sich um eine Überraschung im Zusammenhang mit »Arbeitstitel Hemingways Koffer« handelte.
Es blieb ihm noch Zeit bis halb zwölf, und er beschloss, einen Umweg zu machen. Er flanierte durch die Stadt wie ein Frischverliebter. Alles war ihm wohlbekannt und doch so neu. Als würde er einem Fremden seine Stadt zeigen und sie so durch dessen Augen sehen.
Wie gewöhnlich war Weynfeldt zu früh am Treffpunkt, aber als er den Südflügel betrat, sah er Kando schon von weitem an einem Nischentisch. Sie winkte ihn herbei, und als er den Tisch erreichte, sah er, dass dort noch ein Glas stand. Ein Campari, Claudios Aperitif. Sie begrüßte ihn mit dem verheißungsvollen Lächeln einer Mutter vor der Bescherung. »Claudio musste schnell raus, er ist ziemlich aufgeregt«, raunte sie ihm komplizenhaft zu.
Adrian tat etwas, das er seit Jahren nicht mehr getan hatte: Er bestellte einen Pernod. Es passte zu diesem Tag und seiner Stimmung.
Kurz darauf kam Claudio zurück. Weynfeldt drückte ihm die vom Händewaschen noch nasse Hand, sie setzten sich, und es entstand eine erwartungsvolle Pause. Mutter Kando konnte es nicht erwarten, dass ihr Junge dem Gast sein Verslein aufsagte.
Claudio schien es auch so zu empfinden. Mürrisch sagte er: »Du tust ja gerade so, als sei es ein Wunder. Dabei handelt es sich um eine ganz normale Stufe im Entstehungsprozess
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