Der letzte Wille: Thriller (German Edition)
überwinden, ihren Vater direkt zu erwähnen. Das hätte ihr zu wehgetan. »Mary Ann ist erwachsen. Sie hat ihren eigenen Kopf.«
»Sie hat keine Ahnung vom Leben.«
Paddy nahm ihre Hand und Trisha sank ihr entgegen. »Du machst dir was vor. Sie hat mehr gesehen als du oder ich oder wir beide zusammen. Sie arbeitet in einer Suppenküche und wurde mehr als einmal zusammengeschlagen. Vielleicht versteht sie nichts von der Welt, aber sie weiß eine ganze Menge, was wir nicht wissen.«
Trisha blickte tief in ihren bitteren Tee. »Er ist ein Mann der Kirche. Ein Priester. Wie kann er nur?«
»Und du denkst, sie verhält sich völlig passiv? Weil sie eine Frau ist?«
Trisha wies Paddy mit erhobener Handfläche zurück.
»Fang jetzt bloß nicht mit deiner Frauenemanzipation an.«
»Verdammt noch mal, Mum, Mary Ann ist kein Kind mehr. Wir sind alle keine Kinder mehr. Frauen machen manchmal auch den ersten Schritt. Das ist nicht mehr so, wie’s früher mal war. Wir sitzen nicht mehr alle in einer Reihe an der Wand und warten, bis wir zum Tanz aufgefordert werden.«
Trisha blickte verzweifelt in ihre Tasse. Ihre weißen Haarwurzeln schimmerten durch und ihr Rücken war gekrümmt. Sie wirkte alt und erschöpft.
»Mum, sie ist fast dreißig. Sie ist eine Frau.«
Trisha drehte sich zu ihr um. »Und du freust dich wahrscheinlich noch. Du wolltest sowieso nicht, dass sie ihr letztes Gelübde ablegt. Du gehst nie zum Abendmahl oder zur Beichte.«
Aber Paddy würde nicht auf reumütig machen. Seit ihrem siebten Lebensjahr hatte sie zu verbergen versucht, dass ihr der Glaube fehlte. Lange Zeit war sie aufrichtig davon überzeugt gewesen, dass alle Familienmitglieder am Jüngsten Tag wegen ihr schlechter abschneiden würden, und dass Gott, den sie weder mochte noch respektierte, sie in die Hölle verdammen würde. Es war eine entsetzliche Last gewesen und sie hatte sie ganz allein getragen.
»Ich verstehe nichts von Religion«, sagte sie trotzig. »Aber ich liebe Mary Ann. Ich möchte, dass sie glücklich wird, und wenn ihr auf ihren Freund einschlagt, macht sie das sicher nicht glücklich. Ich hoffe, sie heiratet und bekommt fünf Kinder. Sie wäre eine fantastische Mutter.«
Der Gedanke, dass es auch noch eine Zeit nach dieser geben und Mary Ann heiraten und ihr Enkelkinder schenken könnte, war Trisha noch nicht gekommen. Sie schlürfte ihren Tee und dachte nach, holte Luft, um etwas zu sagen, brach aber ab.
Paddy wusste genau, wie alles ablaufen würde: Trisha würde die Jungs zu Pater Andrew schicken. Ihr Beschützerinstinkt gegenüber Mary Ann war so stark, dass es mit Sicherheit zu Handgreiflichkeiten kommen würde, sobald er auch nur die Tür aufmachte. Die Haushälterin würde die Polizei rufen und die Jungs würden vor Gericht gestellt. Die Geschichte käme heraus, alle wären ruiniert und Trisha wäre endgültig bloßgestellt.
»Es geht im Leben nicht nur darum, glücklich zu sein«, sagte Trisha schließlich. »Man muss auch das Richtige tun und seine Pflicht erfüllen. Es gibt auch noch so was wie Ehre.«
»Ist es vielleicht ehrenhaft zu lügen und zu behaupten, dass man sich berufen fühlt, auch wenn das gar nicht stimmt? Das müsste Mary Ann tun, nur um es dir recht zu machen, Mum …« Paddy weinte schon, bevor sie überhaupt erwähnte: »Dad hätte das nicht gewollt.«
Trisha ließ den Kopf sinken. Cons Name war nicht mehr ausgesprochen worden, seitdem sie seine Kleidung aus dem Schrank genommen hatten.
Sie saßen beisammen, verschränkten die Hände ineinander, bis ihre Finger weiß waren, weinten still, während der Geist Cons vergnügt durch die Küche schwebte, Tee kochte, den Mülleimer leerte, Stühle für die Gäste zurechtrückte und ihnen die Fundstücke zeigte, die er von seinen ziellosen Spaziergängen mitgebracht hatte.
Endlich leckte sich Paddy die Tränen von der Oberlippe, zwang sich zu atmen und sprach: »Mein lieber, sanfter Daddy hätte das nicht gewollt.«
II
Paddy saß auf ihrem alten Bett und sah zu Marty herüber, der auf Mary Anns Bett hockte, und ihr wurde bewusst, dass sie sich nicht daran erinnern konnte, ihren Bruder jemals in diesem Zimmer gesehen zu haben – auch nicht, als sie noch alle zu Hause gelebt hatten. Er und Gerry hatten ihr eigenes Zimmer gehabt, ihre eigenen Trefpunkte, ihre eigenen Geheimnisse. Keiner von beiden war sehr gesprächig. Seitdem sie nach London gezogen waren, riefen sie einmal wöchentlich ihre Mutter an, um ihr mitzuteilen, dass sie nicht
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