Der letzte Wille: Thriller (German Edition)
gestorben waren und ihr vorzulügen, sie seien in der Kirche gewesen. Tiefgründiger wurden die Gespräche selten.
Marty war misstrauisch geworden, als er im düsteren Wohnzimmer ihrem Blick begegnet war und sie ihm mit einem Nicken bedeutet hatte, in den Flur hinauszukommen. Sie hatte ihn die steile, mit einem Teppich bedeckte Treppe hinaufgeführt und ihn im Licht der nackten Glühbirne auf eines der beiden schmalen Betten mit den verblichenen Tagesdecken gesetzt. Er hielt die Knie zusammen, stützte die Hände seitlich an den Oberschenkeln ab, betrachtete die unvertrauten Wände und die halb zugezogenen Vorhänge.
Sie hatten sich nicht besonders gemocht, als sie noch gemeinsam zu Hause gewohnt hatten, und es war ein seltsames Gefühl, jetzt so viel von ihm zu verlangen.
»Was gibt’s?«, fragte er und zwang sich, Paddy anzusehen. »Ist Mum krank?«
»Nein.« Sie holte tief Luft, wollte rauchen, konnte aber nicht, weil Pete in dem Raum schlafen würde. »Ich muss dich und Gerry um einen riesengroßen Gefallen bitten.«
Marty war ganz Ohr. »Geht’s um Geld?« Er lächelte angestrengt.
»Nein. Pass auf, ich stecke da in einer heiklen Sache. Zwei Freunde von mir sind gestorben …«
»Hast du Aids?«
Sie spürte eine vertraute Hitze im Nacken. »Marty, halt die Klappe und hör zu, ja?«
Marty stand auf. Die Betten waren niedrig und er wirkte sehr groß. Als er sich zu ihr herunterbeugte, fiel ihm sein schwarzes Haar über ein Auge. »Das machst du verdammt noch mal immer so.«
Sie hätte ihn jetzt eigentlich fragen müssen, was sie immer so machte. Dann würden sie in altbekannte Streitereien verfallen: Sie war eine rechthaberische, aufgeblasene Kuh, er ein Tyrann, sie war fett, er dumm, ja, scheiß auf dich, du mich auch.
»Gestern Nacht hat jemand versucht, Pete umzubringen. Ein Mann, ein irischer Republikaner, über den ich geschrieben habe. Er ist bei Burns eingebrochen und hat versucht, Pete zu erstechen, weil er mich nicht finden konnte. Das war eine Warnung. Eigentlich will er mich.«
Marty ließ sich wieder auf das Bett fallen, starrte sie an. Die Spur von Angst in seinen Augen brachte sie darauf: Er sah Con so ähnlich, dass sie beinahe wieder geweint hätte. »Du musst für mich auf Pete aufpassen.«
Er nahm ihre Hände, drehte ihre Daumen nach außen und strich seiner Schwester über die Handflächen.
»Wieso? Wo fährst du hin?«
Sie holte noch einmal tief Luft. »Ich muss ihn trefen.«
Die Worte hingen schwer in der Luft, als Paddy aus dem Fenster auf den Baum sah, der sich im Sommerwind des Gartens wiegte.
»Kann ich nicht mitkommen?«
»Du musst auf Pete aufpassen.«
Als sie eingezogen waren, hatte ihr Vater den Baum für einen Busch gehalten und stehen lassen. Sie hatte erst kürzlich herausgefunden, dass es sich um einen Ahorn handelte. Jeden Sommer war er ein Stück weitergewachsen und üppiger geworden, bis er nun den gesamten Garten beherrschte, sich einsam über eine verrostete Waschmaschine erhob und durch die hochgewachsenen Grashalme spähte, wie der Leiter eines kriegerischen Einsatzkommandos. Niemand außer Paddy hatte den Baum je gemocht. Sie liebte ihn, weil er es wagte, in so hässlicher Umgebung schön zu sein.
Marty presste ihre Handflächen aneinander und wärmte sie mit seinen.
»Kannst du nicht die Polizei einschalten?«
»Die Polizei schützt ihn. Er hat bereits zwei Menschen getötet und ich wurde verwarnt, weil ich gegen ihn recherchiert habe.«
»Hast du die Zeitungen benachrichtigt?«
»Die beiden Männer, die er getötet hat, haben für Zeitungen gearbeitet.«
Marty war entsetzt. »Gerry und ich könnten uns im Wagen verstecken …«
»Nein.«
»Wir könnten eine Pistole besorgen …«
»Nein. Wir gehören nicht zu dieser Art von Leuten. Er hat es auf mich abgesehen und auf jeden, der bei mir ist, Marty. Der macht das schon seit zwanzig Jahren … Bitte vertrau mir. Ich könnte dir stundenlang alles erklären und müsste trotzdem alleine da hin.«
Er hielt ihre Hände ganz fest, hatte den Kopf fast in ihren Schoß gelegt. Er flüsterte: »Lässt du Pete heute Abend hier?«
Sie nickte Richtung Fenster.
»Wird er Pete heute Nacht etwas antun wollen?«
»Nicht, wenn ich ihn suche.«
Sie sah ihren Bruder an. Er strich ihr weinend mit gerötetem Gesicht und bebendem Kinn über die Hände und sah jetzt wirklich aus wie ihr Vater. Zum Schluss hatte Con sehr viel geweint. Spontane Ausbrüche grenzenloser Traurigkeit.
»Wir, äh …« Marty unterbrach
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