Der letzte Wille: Thriller (German Edition)
Das war eine Zeit, die ganz allein ihm gehörte, nur er hatte dort Fußstapfen hinterlassen. Damals reichte ihm das Gras bis zur Brust. Und wenn er im Geiste dorthin zurückkehrte, hatte er das Gefühl, als würde ihm der Atem aus der Lunge gesogen.
Er merkte, dass er das Gefängnis anstarrte. Das war jetzt in Ordnung, jetzt wo er neben dem Wagen stand. Die große graue Mauer verstellte den Blick aufs Meer. Zum ersten Mal war er froh, nicht mehr im Gefängnis zu sein.
Kommt, raus aus dem Wind.
Sean lächelte zu ihm hoch, voller Hoffnung, aber nervös. Er hielt ihm die Tür auf und beugte sich herunter, um Callum noch einmal anzusehen, als dieser schon im Wagen saß.
Ich bin echt froh dich zu sehen, Kleiner. Komm, wir fahren nach Hause.
Im Auto gab es ein Telefon und genug Platz für seine Beine. Neun Jahre lang war er in keinem Auto mehr gefahren, seit jener dunklen Nacht nicht. Danach waren es immer nur Transporter gewesen, Gefängnistransporter, Polizeibusse. Als er das letzte Mal in einem Auto gesessen hatte, war er mit den Füßen noch kaum auf den Boden gekommen. Die Frau setzte sich auf den Beifahrersitz, Sean fuhr. Er ließ den Motor an, und sie rollten langsam vom Parkplatz.
Callum beobachtete die beiden, betrachtete ihre Gesichter von der Seite. Sean machte ein paarmal den Mund auf, bevor sie auf die Hauptstraße einbogen, als hätte er etwas sagen wollen, sich dann aber doch dagegen entschieden. Die Frau sah aus dem Fenster, ihr Ellbogen ruhte am Fenster, die Hand lag am Mund. Sie sah nicht glücklich aus. Als sie an die Kreuzung kamen, sagte sie etwas zu Sean.
Das ist ja mal gutgegangen.
Sean nickte und hielt links nach heranfahrenden Wagen Ausschau.
»Was ist gutgegangen?« Callum konnte kaum glauben, wie beiläufig und normal er das gefragt hatte.
»Na ja, ehrlich gesagt«, sie drehte sich um und sah ihn an, »wir dachten, da würden noch andere Journalisten auf dem Parkplatz warten. Sich verstecken, weißt du, und auf dich warten.«
»Wieso?« Er hatte es wieder hingekriegt und ganz normal gefragt.
»Die wollen ein Foto von dir. Das könnte eine Menge Geld bringen, deshalb gibt es ein ziemliches Gerangel. Darauf solltest du dich in den nächsten Wochen gefasst machen. Ich glaube nicht, dass wir sie von dir fernhalten können. Die meisten haben erraten, dass du bei Sean wohnen wirst, und sie werden das Haus überwachen. Du solltest aufpassen, mit wem du redest.«
Sie geriet außer Atem und sah einen Augenblick weg. Aber Callum hatte nicht zugehört. Er war gleich beim ersten Satz hängengeblieben.
»Andere Journalisten?«
Die Frau schloss die Augen, blinzelte etwas zu lange.
Sie räusperte sich. »Äh, ja. Andere Journalisten.« Sie sah Sean an, aber der zuckte nur mit den Schultern. »Ich bin Journalistin. Erinnerst du dich nicht, dass wir damals im Krankenhaus darüber gesprochen haben?«
Sie war Paddy. Er war ihr schon mal begegnet.
»Sie haben einen Sohn«, sagte er mit viel zu starker Betonung auf dem letzten Wort.
Sie drehte verärgert den Kopf zu ihm um.
»Pete.«
Sie wirkte wütend und wandte sich wieder ab.
Er sah aus dem Fenster. Sie fuhren eine breite Straße entlang, nur wenige Autos waren unterwegs, auf beiden Seiten flache Felder, ein Traktor irgendwo, weit in der Ferne. Seans Augen waren im Rückspiegel zu sehen, schmal, sie versteckten etwas. Die Haut auf seinen Wangen zuckte.
Callum sah sich nach dem Gefängnis um, das jetzt nur noch ein Fleck am Horizont war. Panik stieg in seiner Brust auf. Sean hatte eine Journalistin mitgebracht. War das normal? Bekam er Geld dafür? Benimm dich normal. Verhalte dich ganz normal.
Meine Frau hat Sandwiches gemacht.
Sean hielt die Augen auf die Fahrbahn geheftet, drehte sich halb um und zeigte ihm einen Plastikbehälter mit Broten und einem Apfel. Callum nahm ihn und fand eine Dose Limonade zu seinen Füßen.
Er zog am Ring der Dose und trank den Inhalt in zwei Zügen, um seine Dankbarkeit zu zeigen und um seinen Mund zu füllen, damit er nicht anfing zu schreien oder darum zu bitten, dass sie umkehrten und ihn ins Gefängnis zurückbrachten.
Er öffnete den Behälter, aß die Sandwiches, behielt die leere Dose auf dem Schoß, weil er nicht wusste, was von ihm erwartet wurde.
Sean hatte eine Journalistin mitgebracht. Und wer wollte ihm Vorwürfe machen. Callum ging davon aus, dass für Sean etwas dabei heraussprang, aber er hatte nicht damit gerechnet. Vielleicht hätte er es wissen müssen, vielleicht war das klar gewesen.
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