Der letzte Wille: Thriller (German Edition)
sie.
»Ja, mein Sohn Pete war krank …« Ihr fiel keine einzige plausible Ausrede ein. »Er war krank …«
»Deshalb wollen Sie, dass ich nichts von ihm weiß?«
Er beugte sich jetzt vor, sein Gesicht befand sich nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Seine Augen waren braun, schokoladenbraun mit langen, dichten Wimpern, aber er riss sie ein kleines bisschen zu weit auf, sodass eine Drohung darin lag. »Was denken Sie von mir?«
Sie sah wieder zu Sean, aber er betrachtete die spröde Gummidichtung an seinem Fenster und pulte mit dem Finger daran herum. »Weiß nicht.«
»Ich interessiere mich nicht für Ihren Sohn.« Callum lehnte sich vor. »Wollen Sie wissen, was ich von Ihnen denke?«
Als hätte er gespürt, dass Callum kurz davor war, zu explodieren, fuhr Sean ihn an: »Zurück.«
Callum warf sich sofort auf dem Sitz nach hinten und rutschte in eine Ecke.
Sean drehte sich zu Callum um, sah ihn direkt an. »Du bist erst seit ein paar Stunden draußen und schon bedrohst du jemanden.«
»Tu ich nicht.«
»Doch, tust du.« Er sah Paddy an, war genauso wütend auf sie, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen. »Entschuldige dich.«
Mit hängendem Kopf und Augen, die von einem zum anderen flatterten, knetete er seine Hände im Schoß. »Tut mir leid«, nuschelte er. »Tut mir leid.«
»Ich bin ein bisschen überängstlich, was meinen Sohn angeht«, sagte sie ruhig. »Callum, ich kenne dich nicht, ich weiß nicht, wie du bist, aber du bist gerade aus dem Gefängnis entlassen worden, in dem du gesessen hast, weil du einen Jungen verletzt hast – was würdest du an meiner Stelle denken?«
»Tut mir leid.«
»Nein, mir tut es leid.« Sie streckte die Hand aus, berührte sein Knie mit den Fingerspitzen.
Callum sah zu Sean, der aus dem Fenster blickte. Dann drehte er sich erneut Paddy zu und bewegte sein Bein ein winziges Stück auf sie zu und wieder von ihr weg, auf sie zu und von ihr weg, sodass ihre Fingerspitzen sein Knie streiften. Sie riss ihre Hand weg, als er auf dem Sitz herunterrutschte; hätte sie ihre Hand nicht weggenommen, hätte sie jetzt seinen Oberschenkel berührt.
Er lächelte.
Schockiert blieb ihr der Mund offen stehen, doch Sean hatte nichts davon mitbekommen. Callum hatte darauf geachtet, dass Sean es nicht sah. Er wusste, dass es sich nicht gehörte.
»Du blödes kleines Arschloch«, schrie sie, riss die Tür auf und trat auf die Straße.
»Hey, warte.« Sean beugte sich zu ihr herüber. »Was zum Teufel ist passiert?«
»Frag deinen verdammten Cousin.«
Sie rauschte davon, ihr Gesicht war rot vor Panik und Empörung, sie wollte nur noch weg, konnte kaum glauben, dass ein neunzehnjähriger Kindermörder gerade versucht hatte, sich von ihr befummeln zu lassen.
Sie drehte sich zum Wagen um und sah, dass Sean langsam anfuhr und sich in den Verkehr über die Gallowgate in Richtung Fluss einfädelte. Gott steh Elaine bei, die unter demselben Dach mit ihm schlafen musste. Paddy hätte sich nicht mal im Bus neben ihn gesetzt.
II
Sie ging auf Glasgow Cross zu, eine belebte Kreuzung im Zentrum, huschte an der Ampel über die Straße und merkte, dass ihre Schulter vor Anspannung schmerzte. Eines musste sie Callum lassen: Es war eine kluge Entscheidung gewesen, keine Interviews zu geben. Sie hoffte um seinetwillen, dass er nichts davon mitbekam, wenn das erste Foto von ihm gemacht werden würde. Sie konnte sich vorstellen, wie geisteskrank er sonst darauf aussehen würde. Es war zwar demütigend, dass sie Geld von Burns annehmen musste, aber es hatte sich gelohnt, Pete aus Rutherglen wegzuholen, wo Callum jetzt wohnte.
Von der Straße aus sah sie geschäftige Schatten im Fenster der Press Bar und hörte das Stimmengewirr, das nach draußen drang. Trockener Staub lag auf dem Parkplatz gegenüber dem Gebäude der News. Die Druckmaschinen standen still.
Paddy nahm die Treppe, war froh wieder dort zu sein, wo ihr die Streitereien vertraut waren, endlich wieder unter ihresgleichen. Sie dachte jetzt ruhiger über Callum nach. Er war neunzehn. Wie vielen Frauen war er wohl in seinem bisherigen Erwachsenenleben begegnet? Zwei? Drei? Trotzdem, die Bewährungskommission hätte seiner Freilassung nicht zustimmen dürfen, auch wenn es keine rechtliche Grundlage mehr gab, ihn festzuhalten.
Hinter den Redaktionstüren oben hatten sich nach einem frühen Mittagessen einige Angetrunkene versammelt. Als sie sich durch die Menge schob, wurde sie herzlich begrüßt, der stellvertretende
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