Der letzte Wille: Thriller (German Edition)
Brauereigaul.
Es war Callum Ogilvy.
Sie beugte sich rüber und stieß die Fahrertür auf, erwischte Sean am Schenkel.
»Das ist er, das ist er. Er ist es.«
»Schon gut«, sagte er jetzt ebenfalls nervös, weil sie es war. »Beruhige dich.«
Und er wandte sich ab, um seinen Cousin zu begrüßen.
II
Dreiundfünfzig Schritte bis hierher, weitere acht bis an die Seite des Wagens, vielleicht neun. Die Entfernungen zwischen den Autos, dem Himmel und der Erde waren zu weit, alles zog sich dermaßen hin, dass man sich an nichts klammern konnte. Neun Jahre lang war er nie weiter als sechs Meter von einer Mauer entfernt gewesen; selbst der Sportplatz war beengt gewesen. Der Wind, der ihm innerhalb der Mauern die Haare zerzaust hatte, peitschte ihm nun unfreundlich und schmerzhaft ins Gesicht. Hier toste er völlig ungebremst. Er hatte das Gefühl, mit dem nächsten Windstoß aufs Meer hinausgeweht zu werden, zu ertrinken, das Salzwasser würde seine unglückseligen Lungen füllen, während von der Küste Menschen zusahen und froh waren, ihn endlich loszuwerden. Und wer wollte ihnen einen Vorwurf machen?
Mit der Fußspitze stieß er in einen Riss im Beton, seine gesamten Habseligkeiten in der Plastiktüte schlugen ihm gegen das Bein. Plötzlich wurde ihm schwummrig und er blieb stehen. Er starrte zu Boden und überlegte, ob es besser wäre, sich weiterzubewegen oder einfach an Ort und Stelle abzuwarten, bis er sterben würde. Seine Arm- und Beinmuskulatur war derart angespannt, dass er zuckte.
Man kann nicht mehrere Gedanken gleichzeitig denken.
Dreiundfünfzig Schritte bis hierher, vierundfünfzig, fünfundfünfzig. Er sah auf und entdeckte Sean am Wagen, seinen Cousin, seine Familie. Eine Frau war bei ihm. Er hatte gesagt, er würde eine Frau mitbringen. Eine Freundin der Familie. Seiner Familie.
Die Frau hatte ihn jetzt entdeckt, das merkte er an der Art, wie sie sich auf ihrem Sitz bewegte, sie saß aufrecht, reckte sich nach ihm, als er hinter einem Wagen verschwand. Sie griff zur Fahrertür hinüber, öffnete sie und sprach mit Sean, behielt Callum dabei im Auge.
Sean sah auf.
Achtundfünfzig, neunundfünfzig. Sie starrten ihn an. Nicht wie die Schließer: Die sahen einen, sahen weg und sahen dann noch einmal hin, dachten über einen nach und darüber, was für ein schlechter Mensch man war, murmelten etwas in ihre Bärte. Hat ein Kind umgebracht. Stiller Typ. Komischer Vogel. Aber Sean und die Frau sahen ihn direkt an, ihre Erwartungen zogen ihn an wie die Magnetstrahlen eines außerirdischen Raumschiffs.
Sean drehte sich zur Begrüßung um, der unerbittliche Wind klatschte ihm die Haare an den Kopf. Außerhalb des Besucherraums wirkte er klein.
Seans Gesicht war offen und er hob die Arme zur Begrüßung. Er lächelte, doch sein Blick war voller Sorge.
Callum wusste nicht, was er tun sollte. Er blieb stocksteif stehen, als ihm Sean die Arme um die Schultern legte und ihn drückte. Er war kleiner als Callum und auch nicht so breit. Als Callum versuchte, die Begrüßung zu erwidern und nickte, stieß er aus Versehen an Seans Gesicht. Berührung. Sean hatte die Arme fest um ihn geschlungen, seine Wange streifte kurz Callums und die Wärme brannte auf seiner Haut.
Als ihn Sean losließ, hätte Callum ihn am liebsten gepackt, damit er nicht aufhörte, aber die Frau war bei ihm, hob die Hände und erwartete ebenfalls eine Umarmung. Eine Frau. Callum errötete bei dem Gedanken, dass sich ihre Titten an seine Brust pressen und er sie an der Taille packen würde, so wie er es sich vorstellte, wenn er masturbierte. Schamhaft schlug er die Augen nieder, und sie sah, was er dachte. Sie streckte eine Hand aus.
Schön, dich wiederzusehen.
Er betrachtete sie. Breiter Hintern und kühler Blick, wie die Schwester auf der Krankenstation. Er kannte sie, erinnerte sich an einen kalten Raum vor langer Zeit, vor der dunklen Nacht, zerrissene Tapete hing von den Wänden und er hatte sich geschämt, weil alles im Haus schmutzig war. Hatte sich für seine Mutter geschämt, die trank. Saubere Menschen saßen herum und hofften, bald wieder gehen zu können.
»Sie waren bei der Beerdigung von meinem Dad.«
»Ja, war ich.« Damals hatte sie netter ausgesehen. »Und ich hab dich im Krankenhaus besucht, Callum, erinnerst du dich? Da hattest du die Handgelenke verbunden.«
An die Zeit wollte er sich nicht erinnern. Das war nach der Nacht im Gras gewesen, vor der Verhandlung und niemand hatte jemals mit ihm darüber gesprochen.
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