Der letzte Winter
Möglicherweise hat er etwas gesehen, das uns interessiert. Wir müssen unbedingt mit ihm sprechen.«
»Was hat er gesehen?«
»Eine unserer Kolleginnen ist verschwunden«, erklärte Aneta Djanali. »Wir wissen nicht, was passiert ist. Aber Ihr Mann hat sie gesehen, kurz bevor sie verschwand. Glauben wir. Darüber müssen wir mit ihm reden.«
»Wo hat er sie gesehen?«
»Auf der Avenyn.«
»Ja, da steht er immer.« Sie warf einen Blick aus dem Fenster, auf all das Große in der Ferne, das unfassbare Meer, das um die ganze Erde reichte. Sie ist hier gefangen, dachte Aneta Djanali. Es hat keinen Wert. Ihr Mann steht obdachlos auf der Avenyn. Manchmal kommt er her. Erinnert sie an ihre Gefangenschaft.
»Wissen Sie, wo er ist?«, fragte Fredrik.
»Waren Sie schon bei der Heilsarmee?«
»Ja. Die haben uns Ihre Adresse gegeben.«
»Und er ist nicht auf der Avenyn? Er steht immer vorm Tvåkanten.« Sie lächelte, aber vielleicht war es auch etwas anderes. »Es ist schon Jahre her, seit ich dort in der Nähe war.«
»Kann er sich bei einem Freund aufhalten?«
»Ich kenne keinen. Ich will übrigens auch keinen kennen.«
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Vor Weihnachten.« Sie löste den Blick vom Meer. »Eigentlich wollte er Geschenke für Johan bringen.« Sie wies mit dem Kopf in den Flur und lächelte wieder dieses seltsame Lächeln, das keines war. »Drei Minuten hat er dort gestanden, und dann war er wieder weg. Er hatte keine Geschenke. Johan wartet immer noch darauf.«
Halders und Aneta Djanali schwiegen.
»Wo er jetzt ist, weiß ich also nicht«, fuhr sie fort.
»Hat er nicht angerufen?«
»Wir haben kein Telefon mehr.«
»Mama …«
Sie drehten sich um.
»Redet ihr über Papa?«
Der Junge sah aus, wie Zehnjährige eben aussehen. Warum auch nicht? Wie Halders’ elfjähriger Sohn. Dieser Junge hieß Johan. Er war Heiligabend zehn geworden. Er war Hockeyspieler. Er wirkte kräftig unter dem T-Shirt.
»Geht es um Papa?«, wiederholte er.
»Ja, Johan.«
»Was ist los?«
»Die Polizei möchte sich mit ihm unterhalten.«
»Dein Papa hat nichts getan«, sagte Halders. »Er hat etwas gesehen, über das wir gern mit ihm sprechen würden.«
»Er sagt, er sieht alles«, sagte der Junge.
»Das ist gut«, sagte Halders.
»Er sieht alles von der Stelle, wo er arbeitet«, fuhr der Junge fort.
Halders nickte.
»Er hat mir erzählt, dass er oft Leute in der Stadt gesehen hat, die später ermordet wurden«, sagte Johan.
»Wie bitte?!« Seine Mutter machte einen Schritt auf ihn zu. »Was hat er dir erzählt?! Wann?!«
»Als ich trainiert habe, vor Weihnachten. In Frölundaborg.«
»Hast du ihn in Frölundaborg getroffen?«
»Da besucht er mich manchmal. Wenn wir ein Match haben. Jetzt hatten wir Training.«
»Wie war er da? Wie ist er, wenn er dich besucht? War er betrunken?«
»Nein.«
»Warum hat er dir erzählt, dass jemand ermordet wurde, Johan?«, fragte Aneta Djanali.
»Er wollte mir wohl beweisen, dass er alles sieht«, antwortete Johan. »Er hat einen guten Überblick, wenn er mitten in der Stadt steht.«
»Hat er einen Mord gesehen?!«, fragte seine Mutter. »Johan?! Was hat er gesehen? Hat er es gesehen?«
»Nein.« Der Junge hatte eine Ruhe, die seine Mutter seit langem verloren hatte. »Papa hat gesagt, er hätte jemanden gesehen, den man später tot im Wasser gefunden hat. Das stand auch in der Zeitung.«
»Du lieber Gott«, sagte Gitte Näver.
Seltsam, dass sie seinen Namen nicht längst vergessen hat, dachte Aneta Djanali.
»Er wollte wohl ein bisschen vor mir aufschneiden.« Der Junge sah traurig aus, als er das sagte, sein Gesicht wurde zwanzig Jahre älter. Aneta Djanali und Halders hatten das schon viele Male gesehen. Kinder von Abhängigen alterten schneller als die Eltern. Einige wurden Beschützer, wie dieser Johan. Eine Schulter zum Anlehnen, selbst wenn sie zart war. Aber Johans Schulter wirkte stark. Hoffentlich schafft es der Junge in die Nationalmannschaft, dachte Halders. Und wird ein richtiger Profi. Los Angeles Kings.
»Ich glaube, ich weiß, wo Papa ist«, sagte Johan.
43
R hodin wurde wegen des Verdachts, Anders Dahlquist ermordet zu haben, von Molina in Untersuchungshaft genommen. Da er jedoch nicht dringend tatverdächtig war, konnten sie Rhodin nicht länger als sieben Tage festhalten, wenn sie nichts Neues fanden oder er etwas Neues aussagte. Winter war unzufrieden. Nicht, weil es nicht zum dringenden Tatverdacht gereicht hatte. Rhodin war kein
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