Der letzte Winter
an der Tür schlug etwas, schlug hin und her. Klapperte, als würde die Tür aus ihren Scharnieren gerissen. Oder war das Geräusch in ihrem Kopf, vielleicht klapperte etwas in ihrem Kopf und nirgendwo anders?
Inzwischen hatte sie jedes Zeitgefühl verloren. Es konnten Wochen vergangen sein. Oder Stunden. Wenn sie jemand fragen würde, sie würde es nicht sagen können. Aber niemand würde sie fragen. Der Letzte, der sie etwas gefragt hatte, war er gewesen, und er war nicht mehr hier. Das Geklapper da draußen, das war er. Er hatte sie verlassen. Es wurde ihm zu gefährlich. Sie würden näher kommen. Sie würden sie finden. Dann wollte er so weit entfernt sein wie möglich.
Er ist zu feige, um mich zu töten. Diese feige Sau!
Sie versuchte, einen Fuß oder einen Finger zu bewegen. Einen Teil des Körpers, nur einen kleinen Teil. Irgendetwas. Wenn es ihr gelang, war es noch nicht zu spät. Und wenn sie nur etwas Wasser bekäme, würde es nie zu spät sein. Er musste ihr irgendwann wieder Wasser gegeben haben. Ich kann mich nicht erinnern. Bald weiß ich nicht einmal mehr, warum ich hierhergekommen bin. Vielleicht weiß er, wie das Gehirn eines Menschen funktioniert. Vielleicht weiß er alles. Er hält mich hier so lange fest, bis ich mich an gar nichts mehr erinnere. Dann bin ich frei.
Was ist das? Waren das Stimmen? Nein, keine Stimmen. Sie lauschte angespannt. Jetzt war es wieder still. Im Zimmer ist es dunkel. Warum ist es so dunkel? Vorher war es immer ein bisschen hell. Durch das Fenster war Licht gesickert. Es ist weg. Alles Licht ist verschwunden.
Sie machte einen neuen Versuch, sich zu bewegen. Aber es war unmöglich. Er hatte ihre Lage verändert, hatte sie auf eine andere Art gefesselt. Sie kam nicht dahinter, wie. Sehen konnte sie nichts. Sie befand sich in einem anderen fensterlosen Zimmer. Was war das für ein Geklapper? Es kommt mir bekannt vor. Das habe ich schon einmal gehört, vor langer Zeit. Erinnere ich mich? Ich bin immer noch in derselben Wohnung. Er hat mich nur in ein anderes Zimmer verlegt. Wenn jemand kommt, bin ich unauffindbar. So ist es. Darum also. Wenn sie kommen, um mich zu retten, bin ich nicht da. Er hat mich ein weiteres Mal versteckt. Sie werden kommen und mich suchen, und ich bin nicht da. Mich gibt es nicht mehr.
Winter brauchte zehn Minuten zu Fuß bis zu dem Haus in der Smålandsgatan. So nah y doch so fern. Spanien. Muss ich nach Spanien fahren? Die Zeit ist zu knapp. Vielleicht bleibt es mir trotzdem nicht erspart.
An der Haustür hing die Namenstafel, aber Rhodins Name fehlte. An einer Stelle war eine Lücke. Winter drückte auf den Knopf. Niemand meldete sich. Er drückte noch einmal. Nach einer Weile kratzte es in der Gegensprechanlage.
»Ja …?«
»Sind Sie Hans Rhodin?«
»Ja …?«
»Hier ist Erik Winter. Landeskriminalpolizei. Würden Sie bitte öffnen?«
Wieder ein Kratzen. Vielleicht ein Räuspern.
»Wie bitte?«
»Erik Winter. Wir sind uns schon einmal begegnet. Würden Sie bitte öffnen? Ich muss mit Ihnen sprechen.«
Wieder ein Räuspern.
»Äh … um was geht es denn?«
Die Stimme klang, als käme sie von der anderen Seite des Erdballs, durch die Telefonleitungen vergangener Zeiten. So nah und doch so fern, dachte Winter.
»Ich möchte, dass Sie die Tür öffnen!«, sagte er lauter.
Im Türschloss knackte es.
Winter trat in den Hausflur und stieg die Treppen hinauf. Es sah aus wie bei ihm am Vasaplatsen. In allen Häusern des Viertels sah es aus wie bei ihm zu Hause, die hohe Decke, die Stuckatur. Der trockene Geruch nach Alter.
Er stand vor der Tür im dritten Stock. Auch hier kein Namensschild. Er klingelte. Er hatte kein Gefühl von drohender Gefahr. Das wusste er immer. Fast immer. Er trat einen Schritt beiseite. Als die Tür geöffnet wurde, stand er dahinter. Er wartete, bis der Mann herauskam. Rhodin zuckte zusammen, als Winter sich zeigte. Rhodin trug ein Unterhemd und eine seltsame Hose. Seine Bartstoppeln waren mehrere Wochen alt und die Ringe unter seinen Augen sehr dunkel. Südeuropäisch. Winter roch Alkohol. Ein alter Rausch, der wie neu war.
»Was gibt’s?«, fragte Rhodin.
»Darf ich hereinkommen?«
»Habe ich eine Wahl?«
Winter antwortete nicht, machte nur eine leichte Handbewegung zur Wohnung. Er ahnte, wer sie vermittelt oder verkauft hatte.
Rhodin drehte sich um und ging voran in sein Zuhause. Wenn es sein Zuhause war. Er drehte sich wieder zu Winter um.
»Ich habe nichts Neues zu sagen, seitdem wir uns zuletzt
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