Der letzte Winter
Das Durchatmen tat ihm gut.
Im Fahrradständer vor der Swedbank standen nur wenige Räder. Er stellte sein Rad dazu und schloss es ab. Er war nicht sicher, dass es half. Im vergangenen Herbst war einem der radelnden Polizisten von Göteborg der Drahtesel gestohlen worden. Er hatte nur mal eben in eine andere Richtung geschaut.
Die Frau im Immobilienbüro empfing ihn wie einen alten Bekannten. Vielleicht war sie es, die ihm das Grundstück verkauft hatte. Nein, daran hätte er sich erinnert. Vielleicht war er es gewesen. Es war ein Mann gewesen. Wie lange war das her? Auch daran konnte er sich nach so vielen Jahren nicht erinnern. Dahlquist war vermutlich noch zu jung gewesen.
»Wir sind alle total geschockt«, sagte sie.
»Haben Sie mit Anders Dahlquist zusammengearbeitet?«, fragte er.
»Ja … nein … Wir waren natürlich Kollegen, aber jeder hatte seine eigenen Kunden.«
»Gibt es eine Liste über seine Kunden? Kann ich sie einsehen?«
»Natürlich …« Die Frau drehte sich um, als wollte sie die Liste direkt aus dem Computer aufrufen.
»Es genügt, wenn ich sie später bekomme«, sagte Winter.
»Okay.«
»Es sind einige Tage vergangen, bevor Sie ihn im Büro vermisst haben«, fuhr er fort.
»Ich war es«, sagte sie.
»Wie meinen Sie das?«
»Ich habe Sie … die Polizei benachrichtigt.«
»Ach ja, ich weiß. Darum möchte ich ja auch mit Ihnen sprechen.«
»Er hat einige Tage frei gehabt. Deswegen.«
»Deswegen was?«, fragte Winter.
»Deswegen … ist es niemandem eher aufgefallen.«
Winter nickte.
Die Frau stellte sich vor. Ihren Nachnamen bekam er nicht mit. Der Vorname war Lena. Ein älterer Name. Vielleicht war sie etwas älter. Über dreißig. Fast vierzig. Das war ein wenig älter.
»Ich habe angerufen«, wiederholte sie.
»Warum?«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Warum gerade Sie?«
Sie antwortete nicht. Jetzt sah er die Tränen in ihren Augen. Vielleicht waren sie die ganze Zeit dort gewesen. Ja. Mit ihrem Gesicht war etwas. Es war mehr als der Schock über den bösen jähen Tod eines Kollegen.
»Haben Sie versucht, ihn zu Hause anzurufen?«, fragte Winter.
»Ja … nein … Ich habe angerufen, als er nicht wiederkam. Wann war das? Vorgestern? War das vorgestern?« Sie nahm ein Taschentuch aus der Handtasche, die auf dem Schreibtisch lag, und presste es vorsichtig an die Augen, erst gegen das eine, dann gegen das andere. »Entschuldigen Sie.«
»Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen«, sagte Winter.
»Wie ist es passiert?«, fragte sie. Sie hatte das Taschentuch sinken lassen und sah ihn an.
»Wir wissen es noch nicht.«
»Sie wissen es nicht? Gar nichts?«
»Wir gehen davon aus, dass es sich um Mord handelt.«
»Du lieber Gott.«
Sie weinte nicht mehr, aber sie war sehr blass.
»Wer konnte … wer wollte …« Sie brach den Satz ab.
»Wir versuchen herauszufinden, was er in den letzten Tagen getan hat, bevor er starb«, sagte Winter.
»Wann … ist es passiert?«
Winter nannte ihr den ungefähren Zeitpunkt, die ungefähren Stunden.
»Du lieber Gott«, wiederholte sie. »Wie schrecklich.«
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«
»Hier … im Büro, letzte Woche … vermutlich.«
Das stimmte nicht ganz. Winter sah es ihr an.
»Warum hat er sich freigenommen?«, fragte er.
»Das weiß ich nicht.«
»Keinerlei Vermutung?«
»Nein.«
»War er krank?«
»Krank … nein. Ach, ich weiß es nicht. Da müssen Sie unseren Chef fragen.«
Winter nickte. Er würde den Chef fragen, vorerst jedoch nicht. Mit der Frau war etwas, das er nicht loslassen wollte. Mit dieser Lena. Sie behielt etwas für sich. Das war nicht schwer zu erkennen, oder er sah es, weil er schon ein Vierteljahrhundert als Polizist arbeitete. Sie wusste etwas, das sie nicht sagen wollte. Oder sie dachte etwas, das sie nicht aussprechen wollte. Vielleicht war das dasselbe.
»Warum haben gerade Sie nach ihm gesucht?«, fragte er.
»Spielt das eine Rolle?«
Sie schaute wieder auf, sah auf einen Punkt hinter ihm. Er drehte sich um. Dort war nichts. Es gab fast nie etwas. Er wandte sich ihr wieder zu. Sie bewegte die Hände, flocht die Finger ineinander, löste sie. Er bemerkte einen Ehering. Vielleicht sah sie, dass er es sah. Die Hände verschwanden unter dem Tisch.
»Haben Sie ihn auch in seiner Freizeit getroffen?«, fragte er.
Sie antwortete nicht. Das war auch eine Antwort. Das war es immer.
»Bei ihm zu Hause?«, fuhr Winter fort.
Sie sagte etwas, das er nicht
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