Der letzte Winter
verstand.
»Wie bitte?«
»Was spielt das für eine Rolle?«
Winter hörte Stimmen vor dem verglasten Büroraum, in dem sie saßen. Er drehte sich um. Draußen gingen Leute vorbei. Die Tür stand offen, und er erhob sich, um sie zu schließen. Dann setzte er sich wieder.
»Ich nehme an, Ihnen ist klar, dass es ernste Folgen haben kann, wenn Sie in diesem Fall Informationen zurückhalten«, sagte er.
»Was für Informationen?«
Sie war nicht dumm. Sie sah nicht dumm aus. Sie war auch nicht arrogant. Sie wollte nichts weiter, als sich und ihre Familie schützen. Vor allem sich selber. Vor den Konsequenzen. Es war das Übliche. Falsche Person am falschen Ort. Wir schaden ja niemandem, wenn niemand es weiß. Erst wenn man es weiß, schadet es. Jetzt war es zu einem Schadensfall geworden.
»Haben Sie ihn zu Hause besucht?«
Sie nickte langsam, als fürchtete sie, ihr Kopf könnte abfallen, wenn sie heftiger nickte.
»Wann?«
»Ich … es … Letzte Woche … vielleicht Mittwoch.«
»Warum haben Sie sich nicht sofort gemeldet?« Die Frage klang brutal, seine Stimme aber normal.
»Ich … weiß es nicht.«
»Denken Sie nach.«
»Worüber?«
»Warum haben Sie sich nicht sofort bei der Polizei gemeldet?«
»Er … er hatte gesagt, dass er vielleicht noch ein paar Tage freinehmen wollte. Mag sein, dass er darüber mit dem Chef gesprochen hat. Er … er wollte sich erholen. Er war müde.«
»Erschöpft? Aus einem besonderen Grund?«
»Ich weiß es nicht …«
Winter wartete. Sie wusste etwas. Oder sie hatte eine Ahnung. Sie hatten über etwas gesprochen.
»Ging es um Sie?«
Winter sah, wie sie zusammenzuckte. Als hätte er sie mit einem Finger angetippt. Dem Ringfinger. Er trug auch einen Ehering.
»Wie meinen Sie das?«, fragte sie.
»Ging es um Sie? Sie beide? Um Ihr Verhältnis?«
»Was spiel …«
»Sie sind nicht dumm«, unterbrach Winter sie. »Ihnen ist klar, dass es sehr wohl eine Rolle spielen kann. Antworten Sie auf meine Frage.«
»Es ist vorbei«, sagte sie. »Es ist aus.«
»Seit wann?«
Sie antwortete nicht.
»Wie lange hat es gedauert?«
»Nicht lange. Einige Monate.«
Einige Monate konnten eine sehr lange Zeit sein. Für einen Jugendlichen waren sie wie hundert Jahre. Aber sie war keine Jugendliche mehr, und Anders Dahlquist war auch kein Jugendlicher mehr gewesen.
Sie schaute ihm direkt in die Augen.
»Er … ist umgebracht worden?«
Winter antwortete nicht, wartete.
»Ist er wirklich umgebracht worden?«
»Wir sind noch nicht ganz sicher«, sagte Winter.
Jetzt konnte er ihre Gedanken lesen. Er hat sich meinetwegen umgebracht. Ich war es. Hätte ich nicht. Hätten wir nicht. Hätte ich es nicht gesagt, wäre ich nicht weggegangen, hätte ich nicht das getan, was ich tat, nicht das gesagt, was ich gesagt habe.
»Ich habe das Verhältnis beendet«, sagte sie.
Das Fahrrad war noch da. Er schloss es auf und schob es über die Avenyn. Vor dem Restaurant Tvåkanten stand ein Obdachloser und versuchte, die Straßenzeitung Faktum an Gäste zu verkaufen, die das Restaurant betreten wollten. Winter fischte einen Zwanziger aus seiner Tasche und bat den Mann um seinen Ausweis.
»Natürlich, natürlich.« Der Mann wühlte in seiner Tasche und zog den Ausweis hervor. »Natürlich. Es ist gut, dass Sie fragen. Schönes Fahrrad, übrigens. Mein Sohn wünscht sich ein neues zu Weihnachten. Und als Geburtstagsgeschenk.«
Der Mann war in den Vierzigern, vielleicht älter, vielleicht jünger. Er wirkte ziemlich munter, aber seine Hände zitterten leicht, wie Hände nun einmal nach langem Missbrauch zittern. Genau über der Nasenwurzel und einer Augenbraue hatte er eine Narbe, wie nach einer Faustkämpfer-Karriere. Winter nahm die Zeitung entgegen. Auf dem Deckblatt war eine Zeichnung. Er schaute nicht hin.
»Mein Sohn wird Heiligabend zehn«, sagte der Mann. »Können Sie sich das vorstellen? Zehn am Heiligen Abend!«
»Dann verpasst er eigentlich einen Geburtstag«, sagte Winter.
»Oder er kriegt mehr Geschenke.«
Winter nickte.
»Und darauf können Sie Gift nehmen, dass er die kriegt.«
»Das ist gut.«
»Gut? Ja, darauf können Sie Gift nehmen. Der Junge ist schwer in Ordnung. Er heißt Johan. Er ist verdammt gut. Er spielt Hockey, bei Frölunda! Mit Elfjährigen! Können Sie sich das vorstellen? Er spielt mit Jungen, die ein Jahr älter sind als er.«
»Das ist wirklich ungewöhnlich«, sagte Winter. Außerdem ist es teuer, dachte er. Hockey zu spielen ist
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