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Der Leuchtturm von Alexandria

Der Leuchtturm von Alexandria

Titel: Der Leuchtturm von Alexandria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gillian Bradshaw
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alle schwiegen. Man konnte die nächtlichen Geräusche der Vögel vernehmen und das leise Plätschern der See. Dann fing jemand an zu singen.
    Es war eine Freudenhymne, in der die Zeit gepriesen wurde, als das Licht geschaffen wurde, als der Herr sein Volk aus der Sklaverei in die Freiheit führte, aus dem Tod in das Leben, aus der Dunkelheit in das Licht. Anfangs war es nur eine einzelne Stimme – wahrscheinlich einer der Dekane –, doch bald wurde die Hymne von den übrigen Priestern aufgenommen, und dann sangen alle, und die Musik stieg in großen Wellen in die Dunkelheit empor. Auch ich wurde mitgerissen und stand mit weit offenem Mund inmitten der Menge und sang genauso wie sie. Dann entzündete jemand das im Schutz des Heiligtums vorbereitete Freudenfeuer, und plötzlich sah ich Athanasios im Schein des Feuers stehen, sein goldfarbener Umhang spiegelte die Glut rund um ihn herum wider. Seine weißen Haare umhüllten sein Gesicht, und seine Augen starrten weit aufgerissen in das Licht; ihr Blick heftete sich in grenzenlosem Glück auf etwas, das weit jenseits des Feuers lag. Da wußte ich plötzlich, was ich schon die ganze Zeit über hätte erkennen müssen: Er sehnte sich danach, zu sterben. Er hatte versucht, solange wie irgend nötig, am Leben zu bleiben, von Liebe für seine Kirche erfüllt, aber geistig war er schon seit langem auf den Tod vorbereitet. Er würde kein weiteres Osterfest mehr erleben, und er wollte dieses Fest so vollkommen wie möglich feiern.
    Athanasios entzündete eine Fackel an dem Freudenfeuer, und das Volk jubelte mit diesen tiefen, rhythmisch akzentuierten alexandrinischen Beifallrufen, die dem Jubel keines anderen Volkes gleichen. Die Geistlichen entzündeten ihre Fackeln, und das Volk strömte mit Lampen und Kerzen und allem, was es sonst noch an Brennbarem und Lichtspendendem finden konnte, vorwärts. Die Musiker begannen erneut zu spielen, und die Prozession setzte sich in Bewegung, wand sich die Straße hinunter und zog durch das Tor des Mondes wie ein Sonnenaufgang im Westen in die Stadt hinein. Als die Menge die Kirche erreichte, tanzte sie erneut und stieß langgezogene Bravorufe aus, ähnlich wie bei den Pferderennen. Ich hatte inzwischen zu singen aufgehört und zog schweigend mit. Ich fragte mich, ob die Menschen genauso glücklich wären, wenn sie wüßten, daß sie innerhalb eines Jahres einen neuen Erzbischof haben würden, einen, der von den Truppen eingesetzt sein würde.
    Der Gottesdienst in der Nacht vor Ostern dauert sehr lange. Zuerst wurde in der Kathedrale gebetet und gesungen; dann wurde jeder, der in jenem Jahr getauft werden wollte, in das Baptisterium geleitet und ins Wasser getaucht; dann wurde wieder gesungen, und die Menge formierte sich zu einer erneuten Prozession in die Hauptkirche. Dort ließen sich die Andächtigen nieder, um zu lauschen. Tausende drängten sich in der großen, hallenartigen Kathedrale zusammen. Der Schein von tausend Lichtern spiegelte sich in den düsteren Mosaiken an den Mauern mit ihren Abbildungen der Heiligen. Wir waren von Weihrauchschwaden und dem Geruch der riesigen, erhitzten Menge umgeben. Und Athanasios predigte. Es war eine grimmige, leidenschaftliche, glückverheißende Ansprache, der das Wort: »Der Tod ist verschlungen in den Sieg« zugrunde lag.
    »Dies ist die Zeit des Todes«, rief er dem Volk zu, »aber es ist auch die Zeit der Freude. Denn alles, was menschlich ist, kommt zu einem Ende, was göttlich ist, jedoch nicht. Und dieserhalb, wenn wir tot sind, wenn sich unsere arme Natur erschöpft hat, richtet Gott selbst uns auf, und was aus Erde geboren ward, führt er in den Himmel. Denn Gott hat in Jesus Christus das Bildnis seiner eigenen Ewigkeit für uns aufgerichtet. Wenn wir den Tod lieben, hat er keine Macht über uns. Die Mächtigen dieser Erde haben keine Macht. Der Tod ist vernichtet! Indem er unsere Sterblichkeit zerstört, zerstört er sich selbst, und für uns bleibt nur mehr der Sieg!«
    »Athanasios!« tobte die Menge: Sein Name bedeutet ja »unsterblich«. Athanasios saß auf dem mit Schnitzereien verzierten bischöflichen Thron mit den Löwen von St. Markus zu beiden Seiten, und als seine Blicke in dem riesigen Kirchenschiff umherschweiften, machte er in der Tat einen unsterblichen Eindruck. Er legte das Evangelium nieder, erhob sich und streckte seine Arme empor, und die Menge brüllte erneut seinen Namen, wieder und wieder, bis seine Stimme den tobenden Menschen Schweigen gebot. Ich erinnerte

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