Der Leuchtturm von Alexandria
korinthisches Kelchglas mit der Abbildung eines Streitwagens. Vater drückte sein Entzücken darüber aus, und wir lehnten uns alle auf unseren Plätzen zurück. Festinus sah mich immer wieder an, doch ich schlug meine Augen bescheiden zu Boden, und Thorion sorgte dafür, daß er den Platz gegenüber vom Statthalter einnahm, so daß Festinus im Grunde genommen nicht viel mehr als meine Haare zu sehen bekam. Die Sklaven brachten die ersten Gerichte herein: gekochte Eier, in Wein und Fischsoße eingelegten Lauch, süßsaure Erbsensuppe. Und sie füllten die Trinkgefäße aus grünem Glas mit honigsüßem Weißwein, der frisch aus dem Keller gebracht worden war.
»Ausgezeichnet«, sagte Festinus und hob seine Hand in einer Geste der Bewunderung. »Das mag ich so an Asien: Die Menschen hier verstehen zu leben. In Rom stopfen sie sich den Magen entweder mit völlig zerkochten Leckerbissen voll und trinken viel zuviel, so daß sie krank davon werden, oder sie leben wie die Bauern von Brot und Wasser. Keine Mäßigung und kein Geschmack.« In diesem Tonfall schwadronierte er während des gesamten ersten Ganges, pries Ephesus und alles, was damit zusammenhing, so daß Vater und Pythion allmählich ihre Nervosität ablegten und ihre gewohnte freundliche Selbstgefälligkeit wiedererlangten. Nur Thorion blickte auch jetzt noch mißtrauisch um sich. Ich heftete den Blick nach wie vor zu Boden.
Während des zweiten Ganges (gegrillte, mit Asant gewürzte Seebarbe, Hühnchen auf parthische Art und Schweinebauch in Gurkenkraut) wandte sich das Gespräch der Literatur zu. Als Ehrengast rief Festinus nach den Sklaven, damit sie den Wein für den Hauptgang servierten. Vater hatte eine Amphore vorzüglichen Chianweines öffnen lassen. Festinus wies die Sklaven an, ihn so zu mischen, daß er nur ein Drittel Wasser enthielt. Das war stärker, als wir ihn für gewöhnlich tranken, und schon bald lachte Vater lauthals und zitierte Homer.
»Du bist ja tatsächlich ein Gelehrter, vorzüglicher und höchst gebildeter Theodoros«, sagte Festinus zu ihm. »Was ist mit deinen vortrefflichen Kindern? Ich bin sicher, daß ein kluger Mann seine Kinder nicht unwissend aufwachsen läßt, und ich bewundere stets, wenn die Jugend eine gute Erziehung genießt. Wie schon die Dichter sagen, ist sie eine dem Gold weit überlegene Zierde.«
»O gewiß«, erwiderte Vater. »Ich habe großen Wert auf die Erziehung meiner Kinder gelegt und einen äußerst klugen Hauslehrer für sie engagiert. Es handelt sich um Ischyras von Amida: Er kann das reinste Attisch schreiben und ist in allen Klassikern belesen. Außerdem glaube ich, daß meine Kinder nicht gerade faul sind. Mein Sohn Theodoros studiert jetzt die Rechte und Latein, so daß er Aussicht hat, bei Hof eine gute Stellung zu bekommen.«
»Eine kluge Entscheidung, junger Mann«, meinte Festinus beifällig. Thorion brummelte etwas vor sich hin und starrte in seinen Weinbecher. »Und deine Tochter?« fuhr Festinus fort.
»Manche Leute sagen, es sei unnötig, Frauen etwas beizubringen, aber ich war immer der Meinung, daß eine belesene Frau eine Zierde ihres Hauses ist.«
»Oh, Ischyras hat Charis die gleiche Aufmerksamkeit gewidmet wie ihrem Bruder Theodoros«, sagte Vater. »So halten wir es hier im Ostreich. Ich würde niemals eine Tochter ohne Kenntnisse von Homer aufwachsen lassen.«
»Großartig! Vielleicht könnte sie uns die Freude machen und uns etwas rezitieren? Viele der bedeutenden römischen Edelleute lassen während ihrer Festessen stets ein paar Verse rezitieren. Eine ausgezeichnete Sitte, finde ich.«
»Wir kennen diese Sitte bei uns ebenfalls«, sagte Vater und der Wein ließ seine Wangen erglühen. »Charis! Meine Liebe, steh auf und rezitier uns etwas!«
Widerwillig stand ich auf. Ich hatte nicht viel Wein getrunken, denn die Sklaven hatten mein Glas nicht so wie diejenigen der Männer dauernd nachgefüllt. Alle starrten mich an. Pythions Frau lächelte mir aufmunternd zu. Festinus entblößte seine Zähne, und für einen Augenblick vergaß ich all meine Lektionen, mein Kopf war völlig leer. Natürlich hatte ich einige Passagen auswendig gelernt: Jeder muß Stücke von Homer und aus den Tragödien auswendig lernen. Aber alles, was mir jetzt einfiel, war: »Sing, Göttin des Zorns«, was schon eine Vierjährige aufsagen kann – dies und ein paar Sätze von Hippokrates über die Behandlung von Wunden. Dann fiel mir plötzlich die Tragödie von Euripides ein, die wir heute morgen
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