Der Leuchtturmwärter: Kriminalroman (German Edition)
sonst nicht gewusst, wohin. Sie würde noch früh genug Menschen begegnen, denen sie einiges erklären musste. Außerdem hatte Madeleine sich geschworen, dass sie Mette das Geld für die Fahrkarten zurückgeben würde. Sie hasste das Gefühl, in jemandes Schuld zu stehen, aber sie und die Kinder hatten keine andere Möglichkeit gehabt, nach Hause zu kommen. Alles andere musste warten.
Sie wagte gar nicht darüber nachzudenken, was nun passieren würde. Gleichzeitig erfüllte das Unausweichliche sie mit Ruhe. Es war ein seltsames Gefühl von Sicherheit, in einem Winkel gefangen zu sein und nicht mehr fliehen zu können. Sie hatte aufgegeben, und in gewisser Hinsicht war es ein schönes Gefühl. Dauernd wegzulaufen und zu kämpfen, zehrte an den Kräften. Nun hatte sie keine Angst mehr um sich selbst. Nur wegen der Kinder zögerte sie noch, aber sie würde alles tun, damit er sie verstand und ihr verzieh. Da er sich nie an den Kindern vergriffen hatte, würden sie so oder so zurechtkommen. Das musste sie sich zumindest einreden. Sonst wäre sie verloren gewesen.
Am Drottningstorg stiegen sie in die Straßenbahnlinie 3. Alles war so vertraut. Obwohl die Kinder so müde waren, dass ihnen beinahe die Augen zufielen, drückten sie sich die Nasen an der Scheibe platt und blickten neugierig hinaus.
»Ist das nicht das Gefängnis, Mama?«, fragte Kevin.
Sie nickte. Doch, sie fuhren in dem Moment an der Vollzugsanstalt Härlanda vorbei. Die nächsten Haltestellen konnte sie aus dem Kopf aufsagen: Solrosgatan, Sanatoriegatan. Bei Kålltorp mussten sie aussteigen. Trotzdem wären sie beinahe vorbeigefahren, weil sie vergessen hatte, auf den Knopf zu drücken. In der letzten Sekunde fiel es ihr ein. Die Straßenbahn verlangsamte die Geschwindigkeit und hielt an, damit sie aussteigen konnten. Der Sommerabend war noch hell, aber die Straßenbeleuchtung war eben eingeschaltet worden. In den meisten Wohnungen brannte Licht, auch bei ihren Eltern. Madeleine kniff die Augen zusammen. Je näher sie kamen, desto heftiger klopfte ihr Herz. Sie würde ihre Mutter und ihren Vater wiedersehen, würde von ihnen umarmt werden und die zärtlichen Blicke bemerken, mit denen sie ihre Enkelkinder bedachten. Sie ging immer schneller, und die Kinder stolperten tapfer hinter ihr her. Sie freuten sich auf Oma und Opa, mit denen sie schon lange nicht mehr zusammen gewesen waren.
Endlich standen sie vor der Tür. Madeleines Hand zitterte, als sie auf den Klingelknopf drückte.
Fjällbacka 1871
E r war ein unglaublich schönes Kind, und die Entbindung war erstaunlich gut verlaufen. Das hatte sogar die Hebamme gesagt, als sie ihr das kleine, in eine Wolldecke gehüllte Bündel auf die Brust legte. Eine Woche später waren die Glücksgefühle immer noch da, und sie wurden mit jeder Minute stärker.
Dagmar war genauso glücklich wie sie. Wenn Emelie irgendetwas brauchte, war sie sofort zur Stelle, und sie wickelte den Jungen mit der gleichen Andacht, mit der sie sonntags in der Kirche saß. Die beiden hatten gemeinsam ein Wunder erlebt.
Er schlief in einem Körbchen neben Emelies Bett. Sie konnte ihn stundenlang anschauen, wenn er mit der winzigen Hand am Mund dalag. Wenn es in seinem Mundwinkel zuckte, bildete sie sich ein, es wäre ein Lächeln, ein Ausdruck der Freude darüber, auf der Welt zu sein.
Die Kleidungsstücke und Decken, die sie und Dagmar an vielen Abenden angefertigt hatten, wurden nun gebraucht. Sie mussten mehrmals am Tag gewechselt werden, und das Kind war immer satt und sauber. Emelie hatte das Gefühl, Dagmar, der Junge und sie lebten in einer eigenen kleinen Welt, in der es weder Kummer noch Sorgen gab. Sie hatte sich auch für einen Namen entschieden. Er sollte Gustav heißen, wie ihr Vater. Sie dachte gar nicht daran, Karl vorher zu fragen. Gustav war ihr Sohn, er gehörte nur ihr.
Karl hatte sie, seit sie bei Dagmar wohnte, nicht ein einziges Mal besucht. Sie wusste, dass er in Fjällbacka gewesen sein musste, sicher war er wie immer mit Julian gekommen. Auch wenn sie froh war, ihm nicht begegnen zu müssen, tat es weh, dass er sich so wenig für sie interessierte. Dass sie ihm nicht mehr bedeutete.
Sie hatte versucht, mit Dagmar darüber zu reden, aber die hatte wie immer, wenn Karl zur Sprache kam, abweisend reagiert. Stets murmelte sie, er habe es nicht leicht gehabt, und sie wolle sich nicht in Familienangelegenheiten einmischen. Schließlich hatte Emelie es aufgegeben. Sie würde ihren Ehemann nie verstehen und
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