Der Leuchtturmwärter: Kriminalroman (German Edition)
waren durchgestrichen, manche eingekreist, je nachdem, ob die Person verhasst oder beliebt gewesen war. Hier und da standen auch kurze Kommentare. Nett, süß, bescheuert oder total gestört, lauteten die Urteile, die ohne großes Fingerspitzengefühl gefällt worden waren. Die Teenagerzeit war nichts, worauf man stolz sein konnte. Als sie die Seite mit ihrem eigenen Klassenfoto erreichte, errötete sie. Um Gottes willen, so hatte sie ausgesehen? Mit dieser Frisur und in diesen Klamotten war sie vor die Tür gegangen? Offensichtlich hatte es einen Grund gegeben, warum sie sich diese Fotos schon lange nicht mehr angesehen hatte.
Sie holte tief Luft und betrachtete sich selbst genauer. Dem Bild nach zu urteilen, handelte es sich um ihre Farrah-Fawcett-Phase. Die langen blonden Haare waren mit der Lockenzange sorgfältig zu großen Wellen geformt worden. Die Brille bedeckte das ganze Gesicht, und Erica schickte ein Dankgebet zum Himmel für die Erfindung der Kontaktlinse.
Plötzlich bekam sie leichte Bauchschmerzen. Mit diesem Alter und der Oberstufenzeit war so viel Angst verbunden. Das Gefühl, anders zu sein und nicht dazuzugehören. Die ständige Suche nach der Eintrittskarte zu den angesagten und coolen Kreisen. Sie hatte es versucht. Hatte die Frisuren und den Stil imitiert und hatte dieselben Ausdrücke und Formulierungen verwendet wie die Klassenkameradinnen, denen sie so gern gleichen wollte. Mädchen wie Annie. Es war ihr jedoch nie geglückt. Sie hatte aber auch nicht zum Bodensatz gehört, zu den Mobbingopfern, die so daneben waren, dass sie es gar nicht erst zu versuchen brauchten. Sie war Teil der unsichtbaren grauen Masse gewesen. Nur die Lehrer beachteten sie, ermunterten sie und zeigten Anerkennung. Das hatte sie jedoch kaum getröstet. Wer wollte schon ein Ass in der Schule sein? Wer wollte wie Erica sein, wenn man auch wie Annie sein konnte?
Sie ließ ihren Blick zu Annies Gesicht wandern. Sie saß auf dem Klassenfoto ganz vorne und hatte ein Bein lässig über das andere geschlagen. Alle anderen bemühten sich um eine bestimmte Pose, aber Annie schien sich einfach zufällig irgendwo niedergelassen zu haben. Trotzdem lenkte sie die Aufmerksamkeit auf sich. Das hellblonde Haar ging ihr bis zur Taille. Glänzend, glatt und ohne Pony, so dass sie es hin und wieder ganz zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammenband. Annie schien alles ohne Anstrengung zu gelingen. Sie war das Original, und alle anderen waren Kopien.
Hinter ihr stand Matte. Auf diesem Foto waren sie noch kein Paar, aber im Nachhinein konnte man hier bereits ahnen, was kommen würde. Denn Matte guckte nicht wie alle anderen in die Kamera. Er war stattdessen in einem Moment eingefangen worden, als er zu Annie blickte und ihr schönes langes Haar betrachtete. Erica konnte sich nicht mehr erinnern, ob sie damals gemerkt hatte, dass Matte in Annie verliebt war, aber sie war vermutlich davon ausgegangen, dass alle Jungs in sie verliebt waren. Es gab keinen Anlass zu der Annahme, dass Matte eine Ausnahme war.
Wie niedlich er war, dachte Erica, als sie ihn sich genauer ansah. Sie wusste nicht mehr, ob sie damals auch so gedacht hatte, aber sie war wahrscheinlich vollauf damit beschäftigt gewesen, für Johan zu schwärmen, einen Jungen aus der Parallelklasse, für den sie während der gesamten Oberstufenzeit eine höchst einseitige Leidenschaft hegte. Matte war tatsächlich richtig süß gewesen, stellte sie nun fest. Blondes, leicht zerzaustes und ziemlich langes Haar, ein ernster Blick, den sie ansprechend fand. Etwas schlaksig, aber das waren in dem Alter alle Jungen. Generell hatte sie aus der Schulzeit kaum noch Erinnerungen an Matte. Sie war in einer anderen Clique gewesen als er. Er gehörte zu den Beliebten, ohne viel Aufhebens davon zu machen. Ganz anders als manche von den angeberischen Großmäulern, die vollkommen von sich selbst eingenommen waren und von ihrem Status in der kleinen Welt, in der sie der King waren. Dagegen schwamm Matte unauffällig mit dem Strom.
Erica legte das Jahrbuch beiseite und nahm das Fotoalbum zur Hand. Es war voller Bilder aus der Oberstufenzeit, von Klassenfahrten, Abschlussfeiern und einigen wenigen Partys, auf die sie gedurft hatte. Annie entdeckte sie auf vielen Bildern. Immer im Mittelpunkt des Geschehens. Sie schien die Kameralinse regelrecht anzuziehen. Sie war verdammt hübsch, dachte Erica, und ertappte sich dabei, dass sie hoffte, Annie hätte inzwischen etwas zugelegt und würde mit einer
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