Der Leuchtturmwärter: Kriminalroman (German Edition)
Sommerartikeln. Kleider, Bikinis, Sonnenhüte, Sandalen, Schmuck und Strandspielzeug. All die Dinge, die sich normale Menschen, die ein normales Leben hatten, einfach kaufen konnten, ohne dass ihnen bewusst wurde, wie gut sie es hatten. Madeleine war nicht undankbar, sondern unendlich froh, sich in einer fremden Stadt zu befinden, die ihr etwas bot, was sie seit vielen Jahren nicht erlebt hatte. Sicherheit. Meistens reichte ihr diese Sicherheit, aber manchmal, wie zum Beispiel heute, sehnte sie sich verzweifelt danach, ganz normal zu sein. Sie sehnte sich weder nach Luxus noch danach, unnötige Sachen zu kaufen, die nur im Schrank lagen. Aber sie sehnte sich danach, genug Geld für die alltäglichen kleinen Dinge zu haben, sie wollte sich einfach einen Badeanzug kaufen, damit sie mit den Kindern am nächsten Wochenende ins Schwimmbad gehen konnte. Oder im Internet die Spiderman-Bettwäsche für Kevin bestellen konnte, weil sie glaubte, dass er möglicherweise ein kleines bisschen besser schlief, wenn er sich nachts an sein großes Idol kuschelte. Stattdessen musste sie die letzten dänischen Kronen zusammenkratzen, um mit dem Bus in die Stadt zu fahren. Das war überhaupt nicht normal, aber wenigstens war sie hier sicher. Auch wenn das bislang nur ihr Gehirn und noch nicht ihr Herz wusste.
Sie ging ins Kaufhaus Illum und steuerte sofort die Konditoreiabteilung an. Dort roch es so gut nach frischem Gebäck und Schokolade, und bei dem Gedanken an ein Plunderteilchen mit Schokolade lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie und die Kinder litten keine Not. Die Nachbarn hatten offenbar begriffen, in welcher Lage sie sich befanden, denn hin und wieder brachten sie ihnen unter dem Vorwand, sie hätten versehentlich zu viel gekocht, etwas zu essen vorbei. Sie konnte sich wirklich nicht beklagen, aber sie wäre so wahnsinnig gern an den Tresen gegangen und hätte zu der jungen Frau gesagt: »Drei Plunderteilchen mit Schokolade, bitte.« Oder noch lieber: »Sechs Plunderteilchen mit Schokolade, bitte.« Dann hätten sie richtig schlemmen und sich hemmungslos jeder zwei Teilchen hineinstopfen können, bis sie sich unter leichter Übelkeit die Schokolade von den Fingern schleckten. Vor allem Vilda würde das gefallen. Sie war schon immer ein richtiges Schokoladenleckermaul gewesen und mochte sogar die Pralinen mit dem Kirschlikör, die von allen anderen verschmäht wurden und immer bis zuletzt in der Aladdin-Schachtel blieben. Vilda verputzte sie mit einem seligen Lächeln, das Madeleine jedes Mal freute. Er hatte Vilda und Kevin immer Schokolade mitgebracht.
Diesen Gedanken schob sie beiseite. Sie durfte nicht an ihn denken. Sonst würde ihre Angst so groß werden, dass sie keine Luft mehr bekam. Hastig verließ sie das Kaufhaus und ging zum Nyhavn hinunter. Als sie das Wasser sah, ließ der Druck auf ihrer Brust nach. Sie behielt den Horizont fest im Blick, während sie an den schönen alten Gebäuden mit den vollen Restaurants und den Booten auf der anderen Seite, die von ihren stolzen Besitzern geschrubbt und poliert wurden, vorbeilief. Am anderen Ufer lag Schweden und Malmö. Die Fähren verkehrten fast stündlich, und wenn man kein Schiff nehmen wollte, konnte man auch mit dem Zug oder dem Auto über die Brücke fahren. Schweden war nah und doch weit entfernt. Vielleicht würden sie niemals dorthin zurückkehren. Der Gedanke schnürte ihr den Hals zu. Sie war selbst erstaunt, wie sehr sie ihr Heimatland vermisste. Sie war ja nicht weit weg, und Dänemark hatte eine trügerische Ähnlichkeit mit Schweden. Trotzdem war so vieles anders, und weder ihre Familie noch ihre Freunde waren hier. Sie hatte keine Ahnung, ob sie sie je wiedersehen würde.
Bedrückt wandte sie dem Hafen den Rücken zu und spazierte langsam zurück ins Zentrum. Sie war vollkommen in Gedanken versunken, als sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter legte. Panik ergriff sie mit aller Wucht. Hatten sie sie gefunden? Hatte er sie gefunden? Bereit, zu beißen und zu kratzen oder wie eine Verrückte um sich zu schlagen, drehte sie sich schreiend um. Sie blickte in ein angsterfülltes Gesicht.
»Verzeihen Sie bitte, wenn ich Sie erschreckt habe.« Der dicke ältere Herr schien fast einen Herzinfarkt zu bekommen. Anscheinend wusste er gar nicht, wie ihm geschah. »Sie haben Ihr Halstuch verloren.«
»Tut mir leid«, stammelte sie immer wieder und brach zur großen Verwunderung des Mannes in Tränen aus.
Ohne weitere Erklärung rannte sie zum nächsten
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