Der Leuchtturmwärter: Kriminalroman (German Edition)
das spürte sie. Paulas unglückliches Gesicht tat ihr weh. Sie ahnte, dass Paula auch nicht wusste, woran es lag. Johanna hatte sich nicht nur von Paula, sondern von allen zurückgezogen. Vielleicht war es ihr zu eng geworden. Sie konnte verstehen, wenn Johanna es nicht toll fand, mit Paulas Mutter und Stiefvater und obendrein zwei Hunden zusammenzuleben. Andererseits war es doch praktisch, dass zuerst Bertil und nun sie tagsüber auf Leo aufpassten, wenn Paula und Johanna zur Arbeit gingen.
Natürlich war ihr klar, dass die Situation die beiden belastete. Sie musste sie dazu ermuntern, sich eine eigene Wohnung zu suchen. Während sie im Kochtopf rührte, zog sich ihr Herz zusammen bei dem Gedanken, morgens nicht mehr von einem verschlafenen Leo begrüßt zu werden, der ihr aus seinem Gitterbett lächelnd die Arme entgegenstreckte. Rita wischte sich ein paar Tränen aus dem Augenwinkel. Das mussten die Zwiebeln sein, schließlich stand sie nicht am helllichten Tag heulend in der Küche. Sie schluckte und hoffte, dass die jungen Frauen selbst eine Lösung finden würden. Sie probierte den Eintopf und gab noch eine Prise Chili dazu. Wenn es nicht im ganzen Körper brannte, war es zu wenig.
Auf dem Küchentisch klingelte Bertils Handy. Sie warf einen Blick auf das Display. Die Dienststelle. Wahrscheinlich fragten sich die Kollegen, wo er abgeblieben war, dachte sie und ging hinüber ins Wohnzimmer. In der Tür blieb sie mit dem laut klingelnden Handy in der Hand stehen. Bertil hatte den Kopf in den Nacken gelegt und schlummerte mit offenem Mund auf dem Sofa. Leo hatte sich auf seinem dicken Bauch zusammengerollt. Er hatte die kleine Faust unter dem Kinn geballt, und sein Brustkorb hob und senkte sich im selben gleichmäßigen Rhythmus wie der seines Großvaters. Rita drückte den Anruf weg. Die Dienststelle musste warten. Bertil hatte Wichtigeres zu tun.
»Der Samstag war richtig gelungen.« Anders sah Vivianne prüfend an. Sie sah müde aus. Er fragte sich, ob ihr klar war, wie viel Kraft sie das alles kostete. Vielleicht hatte ihre Vergangenheit sie doch noch eingeholt. Er wusste jedoch, dass es keinen Sinn hatte, etwas zu sagen. Auf dem Ohr war sie taub. Nur dank dieser Sturheit hatte sie – und wahrscheinlich auch er – überlebt. Er war immer abhängig von ihr gewesen. Sie hatte sich um ihn gekümmert und alles für ihn getan. Nun fragte er sich, ob sich ihr Verhältnis nicht langsam wandelte. Hatten sie nicht inzwischen die Rollen getauscht?
»Wie läuft es mit Erling?«, fragte er. Seine Schwester verzog das Gesicht.
»Wenn er nicht jeden Abend auf dem Sofa einpennen würde, wüsste ich nicht, wie ich das aushalten sollte.« Sie lachte gequält.
»Wir sind fast am Ziel«, wollte er sie trösten, sah aber, dass seine Worte sie nicht erreichten. Vivianne hatte immer von innen geleuchtet, und auch wenn es niemand anderem auffiel, bemerkte er doch, wie ihr inneres Licht allmählich verlosch.
»Glaubst du, sie finden den Computer?«
Vivianne zuckte zusammen.
»Nein, sonst hätten sie es doch längst getan.«
»Ja.«
Es wurde still im Lokal.
»Ich habe gestern versucht, dich anzurufen«, sagte Vivianne vorsichtig.
Anders spürte, wie sein Körper sich anspannte. »Ach ja?«
»Du bist nicht ans Telefon gegangen.«
»Wahrscheinlich hatte ich es ausgeschaltet«, erwiderte er ausweichend.
»Den ganzen Abend?«
»Ich war so müde, dass ich mich mit einem Buch in die Badewanne gelegt habe. Eine Zeitlang habe ich mich auch mit den Berichten beschäftigt.«
»Ach so«, sagte sie, aber er hörte heraus, dass sie ihm nicht glaubte.
Sie hatten nie Geheimnisse voreinander gehabt, aber auch das hatte sich verändert. Gleichzeitig waren sie sich so nah wie nie zuvor. Er hatte keine Ahnung, wie er alles wieder in Ordnung bringen sollte. Seit das Ziel in greifbare Nähe gerückt war, erschien es ihm gar nicht mehr so selbstverständlich. Auch nachts kamen seine Gedanken nicht mehr zur Ruhe, und er wälzte sich schlaflos von einer Seite auf die andere. Plötzlich war nun schwierig, was früher so einfach gewesen war.
Wie sollte er es ihr sagen? Er war schon so oft kurz davor gewesen, es auszusprechen, aber wenn er den Mund öffnete, kam nur Schweigen heraus. Es ging nicht. Er hatte ihr so viel zu verdanken. Noch immer hatte er den Geruch von Zigaretten und Alkohol in der Nase, hörte Gläser klirren und Menschen wie Tiere stöhnen. Vivianne und er hatten eng aneinander gepresst unter ihrem Bett gelegen. Sie hielt
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