Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Titel: Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Winterson
Vom Netzwerk:
letzten Mal geschlafen hatte.
    Er wusste noch, wie er gelacht und gedacht hatte, ohne Schlaf wäre er bald tot. Ja, er fühlte sich wie tot. Er fühlte sich dünn und leer wie eine Muschel.
    Er blickte in den Spiegel und sah eine aufpolierte Abalone ohne Bewohner. Er ging stets gut gekleidet.
    Molly merkte, dass er anders war. Sie versuchte ihm Lust zu verschaffen, und manchmal konnte er auch vergessen, doch wenn sie sich liebten, vernahm er im Augenblick größter Nacktheit wieder die Glocke und ahnte, dass das Schiffsgerippe mit den zerfetzten Segeln näher rückte.
    Er hatte ihr nie erzählt, dass er sie beschattet hatte, und als sie sich eines Nachts in einer Taverne namens Ends Meet trafen und sie ihm erzählte, dass sie ein Kind erwarte, hatte er sie von sich geschoben, war durch die Stadt gerannt, hatte sich in zerfetzte Segel gewickelt und in seiner Wohnung verbarrikadiert. An den Wänden seiner Wohnung hingen Stevensons Skizzen des Leuchtturms am Cape Wrath. Aufrecht auf seinemSockel wirkte der Leuchtturm lebendig, wie ein Seepferdchen, zerbrechlich, unmöglich und doch triumphierend inmitten der Wellen.
    »Mein Seepferdchen«, hatte Molly zu ihm gesagt, als er in ihrem Bett auf sie zuschwamm, ein Meer des Ertrinkens und der Sehnsucht.
    Die Seehöhle und das Seepferdchen. Es war ihr Spiel. Ihre wässrige Weltkarte. Sie waren am Anbeginn der Welt. An einem Ort vor der Sintflut.
     
    An jenem Tag war sie zu ihm gekommen, sanft, offen, als er reglos neben seinem sterbenden Feuer saß. Sie hatte ihn angefleht, und er hatte sie geschlagen, ihr zwei glühende Kohlen in die Wangen gehauen, und sie hatte die Arme hochgerissen, um sich zu schützen, und …
     
    Mit ihren Worten unterbrach sie seine Gedanken.
    »Von wo ich fiel.«
    Er betrachtete das Kind, lachend, gurgelnd, ohne Augenlicht, die Hände auf dem Gesicht seiner Mutter, wie es den Kopf langsam wendete, um den Geräuschen nachzuspüren. Jetzt war ihm klar, was er getan hatte, und er hätte sein Leben gegeben, um mit der Hand in die Zeit einzugreifen und sie zurückzudrehen.
    »Ich tue alles, was du verlangst. Sag es mir. Alles.«
    »Wir sind wunschlos.«
    »Molly – bin ich ihr Vater?«
    »Sie hat keinen Vater.«
    Molly stand auf und wollte gehen. Babel sprang ihr nach und warf dabei die Limonadenflaschen um. Molly drückte das Baby an sich, und das Baby spürte die Unruhe seiner Mutter und war still.
    »Gib sie mir mal.«
    »Damit du sie fallen lässt?«
    »Seit ich weg bin, habe ich jeden Tag an dich gedacht. Und ich habe an unser Kind gedacht. Unser Kind, wenn du es sagst.«
    »Ich sagte es bereits«.
    »Ich habe nicht geglaubt, dass ich dich je wiedersehen würde.«
    »Ich ebenso wenig.«
    Sie hielt inne, und er musste wieder daran denken, wie sie gewesen war in jener Nacht, in jener ersten Nacht, als der weiße Mond ihre weiße Haut beschien. Er streckte die Hand aus. Sie trat einen Schritt zurück.
    »Es ist zu spät, Babel.«
    Ja, zu spät, und zwar seinetwegen. Er sollte eigentlich zurück, er wusste, dass seine Frau auf ihn wartete. Doch während er tief Luft holt, verließ ihn sein Wille.
    »Verbring diesen Tag mit mir. Diesen einen Tag.«
    Molly zögerte lange, während die Menschen um sie herum vorbeizogen, und Dark senkte den Blick und wagte nicht, aufzuschauen, und sah dabei die Reflexe in seinen polierten Stiefelspitzen.
    Sie sprach wie jemand aus weiter Ferne. Jemand, der ein Land war, wo er geboren wurde.
    »Also gut, diesen einen Tag.«
     
    Er strahlte. Sie brachte ihn zum Strahlen. Er nahm das Baby und hielt es dicht an die fauchenden Triebwerke, dicht an die geschmeidige Zugkraft der Räder. Er wollte, dass sie das Pumpen der Kolben hörte, das Schaufeln von Kohle, wie das Wasser gegen die Wände der riesigen Kupferkessel trommelte. Er nahm ihre winzigen Finger und fuhr damit über die Messingbolzen, Stahltrichter, Zahnräder, Ratschen, eine Gummihupe, die draufloströtete, als sie sie in ihren winzigen Händchenzusammendrückte, die von Dark geführt wurden. Er wollte ihr eine Welt des Hörens zeigen, die so prächtig war wie die Welt des Sehens.
    Wenige Stunden später sah er, wie Molly lächelte.
     
    Spät geworden. Die Menge bewegte sich auf den Musikpavillon zu. Dark kaufte dem Baby einen Aufziehbären aus echtem Bärenfell. Er rieb ihr damit über die Wange, dann zog er ihn auf, und der Bär schlug mit den Pfoten zwei Zimbeln zusammen.
    Es war Zeit für ihn zu gehen, er wusste, dass es so war, und dennoch standen sie

Weitere Kostenlose Bücher