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Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Titel: Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Winterson
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stillen Grün.
    Er fragte sich, wie viele Tage er hätte in seinem Leben – insgesamt in seinem Leben –, und wenn sie Stück für Stück zu Boden gefallen wären und er entblättert wäre, ohne die Verkleidung der Zeit, lägen dann die Blätter auf einem Haufen, dem faulenden Haufen seiner Tage, oder würde er sie noch einzeln wiedererkennen – jene verschieden geränderten Tage, die er sein Leben nannte?
    Er steckte die Hand in das Laub. Dieses Blatt – als er mit Molly und ihrer Tochter ans Meer gefahren war. Dieses, als sie einen langen Strandspaziergang unternommen hatten und er eine Muschel für sie fand, schneckenförmig wie das Innere des menschlichen Ohrs. Dieses, als er auf Molly wartete und sie entdeckte, ehe sie ihn entdeckte, und er sie beobachten konnte, wie es nur Fremde können und Liebende möchten.
    Dieses, als er sein Baby hoch über die Welt hielt und vielleicht zum ersten Mal im Leben nichts für sich selbst wollte.
    Er zählte sechzig Blätter und ordnete sie in zwei Lager à dreißig Stück. Ein Jahr hatte dreihundertfünfundsechzig Tage. Dreihundertundfünf Tage lang würde er einfach nicht mehr existieren.
    Warum? Warum musste er so leben? Er hatte sich in eine Lüge verstrickt, und die Lüge hatte ihn in ein Leben verstrickt. Er musste seine Strafe absitzen. Sieben Jahre, so hatte er für sich beschieden, nachdem Molly ihn zurückgenommen hatte.
    Dann würden sie England für immer verlassen. Er würde sie heiraten. Seine Frau und sein Sohn würden in Salts gut versorgt sein. Er wäre frei. Man würde nie wieder etwas hören von Babel Dark.
Wie bist du auf die Welt gekommen, Pew?
    Überraschend, Kind. Meine Mutter war am Strand beim Muschelnsammeln, als ein recht hübscher Schurke anbot, ihr wahrzusagen. Da das nicht alle Tage geschieht, wischte sie sich die Hände an ihrem Rock ab und hielt ihm die Handfläche hin.
    Sah er Reichtümer, ein großes Haus, ein langes Leben, einen ruhigen Herd?
    Nein, derlei Dinge waren ihm nicht gewiss, aber dafür sah er, dass von diesem Tag aus gerechnet in neun Monaten ein hübsches Kind geboren würde.
    Wirklich?
    Nun, das verblüffte sie sehr, doch der saubere Schurke versicherte ihr, dass die Jungfrau Maria genau dasselbe erlebt und unseren Herrn Jesus zur Welt gebracht habe. Und danach spazierten sie zusammen den Strand entlang. Und danach dachte sie nicht mehr an ihn. Und danach wurde das, was er verheißen hatte, wahr.
    Miss Pinch behauptet, du kämst aus einem Waisenhaus in Glasgow.
    Am Cape Wrath hat es immer einen Pew gegeben.
    Aber nicht denselben Pew.
    Nun ja, nun ja.
    Da ich keinerlei Fortschritte mehr machte, hing ich meinen Gedanken nach. In meinem blauen Boot ruderte ich aufs Meer hinaus und sammelte Geschichten wie Treibholz. Immer wenn ich etwas fand – eine Kiste, eine Möwe, eine Flaschenpost, einen angepickten narbigen Hai, der mit aufgeblähtem Bauch im Wasser trieb, eine Hose, eine Büchse Sardinen –, fragte Pew nach der Geschichte, und ich musste sie finden oder erfinden, während wir in den wellenkrachenden Nächten der Winterstürme zusammensaßen.
    Eine Kiste! Das Floß eines Pygmäen, der nach Amerika segelt.
    Eine Möwe! Eine Prinzessin, gefangen im Leib eines Vogels.
    Eine Flaschenpost. Meine Zukunft.
    Eine Hose. Gehört meinem Vater.
    Eine Büchse Sardinen. Die aßen wir.
    Hai. Und im Innern, stumpf vor Blut, eine goldene Münze. Das Omen, dass etwas Unerwartetes passieren wird. Es gibt immer einen vergrabenen Schatz.
     
    Als Pew mich ins Bett schickte, gab er mir ein Streichholz zum Anzünden meiner Kerze. Im winzigen Oval der Streichholzflamme sollte ich ihm sagen, was ich sah – das Gesicht eines Jungen, ein Pferd oder ein Schiff, und während das Streichholz herunterbrannte, brannte die Geschichte über meinen Fingern aus und verlöschte. Sie waren nie zu Ende, diese Geschichten, immer fingen sie wieder an – das Gesicht des Jungen, Hunderte von Leben, das fliegende oder verzauberte Pferd, das Schiff, das vom Rand der Erde stürzt.
    Und dann versuchte ich zu schlafen und träumte von mir, doch die Botschaft in der Flaschenpost war schwer zu entziffern.
    »Ein leeres Blatt«, meinte Miss Pinch, als ich ihr davon erzählte.
    Aber das stimmte nicht. Es stand sehr wohl etwas auf dem Blatt. Ein Wort konnte ich erkennen. Es hieß LIEBE .
    »Da hast du aber Glück«, sagte Pew. »Wer sie findet, hat Glück. Wer nach ihr sucht, hat Glück.«
    »Hast du auch mal jemanden geliebt, Pew?«
    »Ja, Kind, das hat er wohl, der

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