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Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Titel: Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Winterson
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prägte sich ein, was er gelernt hatte.
    Und dann kam ihm wieder der Gedanke wie eine Glocke, deren Klang übers Meer herankam; eine Warnglocke, ein nahendes Schiff im Nebel. Ja, er erkannte es jetzt ganz deutlich.
    Er war nicht ihr erster Liebhaber gewesen.
    Welche anderen Liebhaber hatte sie gehabt? Welche anderen Betten brannten in dunklen Räumen?
    Er schlief nicht.
Erzähl mir die Geschichte, Pew.
     
    Welche Geschichte, Kind?
    Die Geschichte von Babel Darks Geheimnis.
    Es ging um eine Frau.
    Das sagst du jedes Mal.
    Irgendwo gibt es immer eine Frau, Kind; eine Prinzessin, eine Hexe, eine Stiefmutter, eine Meerjungfrau, eine gute Fee oder eine, die so böse wie schön ist oder so schön wie gut.
    Und das war’s?
    Dann ist da noch die Frau, die man liebt.
    Wer ist sie?
    Das ist wieder eine andere Geschichte.

WELTAUSSTELLUNG

Hier entlang zur Cobra.
Die Wunder des Orients!
    Es war das Jahr 1851, und sie waren im Hyde Park.
    Dark kam sich vor wie ein Mann, der von den Toten auferstanden war.
    Er genoss den Lärm, den Trubel, die Programmheftchen-Verkäufer, die Bauchläden, die Schurken mit ihrem roten Halstuch, ein Wirbel von Kniffen und Zungenbrechern. Es gab Falschspieler und Jongleure, Sänger trällerten italienische Opernarien, Schildermaler schrieben die Namen der Besucher auf ein grellbuntes Abbild des Kristallpalasts. Miniatur-Eisenbahnen zogen Wagons voller Puppen, Frauen hatten sich als Puppen verkleidet und verkauften Veilchen, verkauften Brötchen, verkauften ihren Körper. Hausierer auf Kisten boten
das Beste, das Feinste, das Einzigartige
feil, und Mädchen gingen auf den Händen.
    Pferde in schwerem Geschirr zogen Bierfässer und ein Mann mit Panther präsentierte das Rätsel Indiens, und das alles, ehe sie sich überhaupt in die Schlange vor dem Kristallpalast eingereiht hatten, um die Wunder des Empire zu bestaunen.
    Es waren ihre Flitterwochen, die von Dark und seiner neuen Frau, auch wenn ihre Flitterwochen erst verschoben werden mussten, weil Dark kurz nach der Hochzeit krank geworden war.
    Jetzt war er gesund, trug seine Kirchenkluft und wurde überall ehrfürchtig durchgewunken.
    Seine Frau war müde – sie zog das einfache Leben vor –, also suchte Dark ihr einen Stuhl und ging los, um für beide Fleischpasteten und Limonade zu besorgen. Die Queen war beim Verzehr einer Fleischpastete gesichtet worden, und seitdem waren sie plötzlich in Mode. Reiche wie Arme aßen Fleischpasteten zu einem Penny.
    Dark hatte bezahlt und balancierte die Pasteten und ungeöffneten Limonadeflaschen, als er hörte, wie jemand seinen Namen sagte – »Babel«.
    Die Stimme war sanft, doch sie durchschnitt ihn, wie behauener Stein durchschnitten wird, und ein Teil fiel von ihm ab, und darunter war es rau und roh.
    »Molly«, sagte Babel in so ebenmäßigem Ton wie möglich, doch seine Stimme klang schneidend. Sie trug ein grünes Kleid, das rote Haar geflochten und um den Kopf gelegt. Sie hatte ein Baby auf dem Arm, das die Hand nach Darks Gesicht ausstreckte.
    Dark zögerte mit seiner Fracht aus Limonade und Pasteten. Ob sie kurz mit ihm Platz nehmen wolle?
    Sie nickte.
    Sie gingen auf die Tischreihen unter aufgefächerten indischen Palmwedeln zu, die für Londoner Verhältnisse so befremdlich und betörend wirkten wie der Urwald selbst. Sie saßen in Rattanstühlen, während ein indischer Kellner in Turban und Schärpe einer Kohlenhändler-Familie aus Newcastle Curry-Huhn servierte.
    »Ist das Baby …?«
    »Ihr geht’s gut, Babel, bloß, sie ist blind.«
    »Blind?«
    Und wieder durchlebte er jenen furchtbaren Tag, als sie, sanft und hilflos, zu ihm gekommen war, und er …
    Sie hatte einen anderen Liebhaber – das war ihm von Anfang an klar gewesen. Er hatte sie beobachtet, wie sie nachts mit raschen Schritten zu einem Haus am anderen Ende der Stadt ging. Sie war ummantelt, verschleiert, wollte unentdeckt bleiben.
    Nachdem sie ins Haus gegangen war, sah Dark durchs Fenster. Ein junger Mann kam auf sie zu. Sie streckte die Arme nach ihm aus. Der Mann und Molly umarmten sich. Dark wandte sich um, einen stechenden Schmerz in seinem Kopf, gleich unter der Schädeldecke. Er hatte gefühlt, wie seine Angst in den weichen Stellen seines Körpers vor Anker ging. Es war die Angst, die er im Nebel hatte auf sich zusegeln sehen.
    Er war aufgebrochen, zurück in die Stadt. Er rechnete nicht damit, schlafen zu können. Bald fing er an, die ganze Nacht umherzulaufen. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er zum

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