Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)
mir eingeknickt wie ein schlecht gezimmerter Stuhl.
Die Uhr, die man ein Mal die Woche aufziehen musste, tickte noch, aber ich musste jetzt gehen.
Ich entfaltete einen Stadtplan von Bristol aus dem Jahr 1828, der Josiah Dark gehört hatte. An den Stellen, wo er ihn als Untersetzer benutzt hatte, zeichneten sich Rumflecken ab. Im Hafenviertel gab es eine Taverne namens Ends Meet.
Vielleicht war Pew ja dorthin gegangen.
Ein Ort vor der Sintflut.
Gab es je einen solchen Ort? Die Bibelgeschichte ist einfach; Gott zerstörte die böse Welt, und nur Noah und seine Familie wurden gerettet. Nach vierzig Tagen und vierzig Nächten landete die Arche auf dem Berg Ararat, und als die Flut zurückzuweichen begann, blieb das Schiff liegen.
Das muss man sich vor Augen führen; diesen Beweis einer Unmöglichkeit. Ausgesetzt wie ein überzeitlicher Gedächtnismoment. So etwas konnte gar nicht passieren, aber es ist passiert – da liegt das Schiff, aberwitzig, prahlerisch, halb Wunder, halb Wahnsinn.
So sollte ich auch mein Leben sehen – halb Wunder, halb Wahnsinn. Ich sollte akzeptieren, dass ich über nichts von alle dem, worauf es ankommt, die Kontrolle habe. Mein Leben ist eine Spur von Schiffswracks und gesetzten Segeln. Es gibt nie eine Ankunft und nie ein Ziel; nur Sandbänke und Schiffswracks; dann wieder ein Boot und wieder eine Flut.
Erzähl mir eine Geschichte, Silver.
Welche Geschichte?
Erzähl mir, wie es weitergeht.
Das kommt darauf an.
Worauf?
Darauf, wie ich die Geschichte erzähle.
NEUER PLANET
Dies ist keine Liebesgeschichte, aber die Liebe kommt darin vor. Oder vielmehr, die Liebe steht davor und sucht nach einem Weg, um einzubrechen.
Wir sind hier, dort, nicht hier, nicht dort, wirbeln umher wie Staub und nehmen für uns die Rechte des Universums in Anspruch. Wir sind wer, wir sind niemand, wir sind gefangen in einem selbst geschaffenen Leben, das wir nie haben wollten. Wir brechen aus, brechen ein und fragen uns, warum die Vergangenheit immer mitreist, und wir fragen uns, wie man überhaupt über die Vergangenheit reden soll.
In der Grand Central Station steht eine Bude, in der man sein Leben aufzeichnen kann. Man redet. Man wird aufgezeichnet. Ein neuzeitlicher Beichtstuhl – ohne Priester, nur die eigene Stimme in der Stille. Was man war, wird für die Zukunft digital gespeichert.
Man hat genau vierzig Minuten.
Was würde man also sagen in diesen vierzig Minuten – welche Entscheidungen träfe man auf dem Totenbett? Wie viel vom eigenen Leben versinkt in den Wellen, und was davon ist der Leuchtturm, der einem den Heimweg weist?
Wir lernen, keiner Geschichte den Vorrang zu geben. Alle Geschichten müssen erzählt werden. Vielleicht stimmt das ja, vielleicht sind alle Geschichten es wert, gehört zu werden, aber nicht alle Geschichten sind es wert, erzählt zu werden.
Wenn ich über das breite Gewässer meines so genannten Lebens zurückblicke, sehe ich mich dort mit Pew im Leuchtturm sitzen, oder im Rock and Pit, oder ich sehe mich auf einem Felsvorsprung, wo ich Fossilien entdeckte, die sich als fremder Menschen Leben herausstellen. Mein Leben. Sein Leben. Pew. Babel Dark. Wir alle sind verbunden im Sog der Gezeiten, in der Kraft des Mondes, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind im Brechen einer einzigen Welle vereint.
Da bin ich, hangle mich gerade am Rand des Erwachsenwerdens entlang, dann kommt der Wind und weht mich davon, und es ist zu spät, um nach Pew zu rufen, denn auch ihn hat es davongeweht. Ich musste also allein erwachsen werden.
Und so war es auch, und die Geschichten, die ich dir erzählen will, werden einen Teil meines Lebens beleuchten und den Rest im Dunkeln lassen. Du musst nicht alles wissen. Es gibt kein alles. Die Geschichten selbst sind Bedeutung genug.
Wer von einer fortlaufenden Daseinsgeschichte spricht, lügt. Es gibt keine fortlaufende Geschichte, es gibt lichte Augenblicke, und der Rest ist Dunkelheit.
Sieht man genau hin, ist der Vierundzwanzig-Stunden-Tag im Rahmen eines einzigen Augenblicks enthalten; die zuckende amphetamingesättigte Welt als Stillleben. Diese Frau – eine Pietà. Diese Männer, derbe Engel mit unbekannter Botschaft. Die Kinder, die sich an den Händen halten, zeitübergreifend. Und in jedem Stillleben steckt eine Geschichte, die Geschichte, die einem alles liefert, was man wissen muss.
Da ist es; das Licht auf dem Wasser. Deine Geschichte. Meine. Seine. Um glaubhaft zu sein, muss sie mit eigenen Augen gesehen werden. Und
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