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Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Titel: Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Winterson
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das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Nur durch größte Anstrengung fand er zu jener Ruhe, die früher selbstverständlich für ihn war. Seelenfrieden – was gäbe er nicht, um ihn wiederzufinden. Jetzt musste er sich dafür schinden, wie er seinen Körper beim Boxen schindete.
     
    Der Mann ging mit schnellen Schritten und achtete darauf, die Mohnblumen zu schonen, die aus jeder Ritze und dem kleinsten Rest Erde hervorsprossen. Er hatte es nie geschafft, in seinem Garten welche zu züchten, während sie hier im Kargen wuchsen. Eventuell wäre das etwas für seine Predigt …
    Pfingsten. Er liebte die Geschichte, wie zum Pfingstfest der Gral an den Hof König Artus’ gelangt. Er liebte sie, und sie machte ihn traurig, denn an jenem Tag hatten sämtliche Ritter den Schwur abgelegt, den Gral wiederzufinden, und die meisten kamen vom Weg ab, und selbst die Besten unter ihnen gingen zugrunde. Der Hof war am Ende. Die Zivilisation zerstört. Und wozu? Für eine Traumvision, die in der Menschenwelt zwecklos war.
    Die Geschichte drohte ihn zu erdrücken.
     
    Er erreichte die Felswand und sah hinunter nach seinem Hund. Da lag er, die Schnauze zwischen den Vorderpfoten, jedes einzelne Haar ein Inbild der Niederlage. Der Mann rief ihn, und der Hund riss den Kopf hoch, die Augen voller Hoffnung. Der Mann war sein Gott. Hätte der Mann sich doch auch so hinlegen und geduldig auf Erlösung warten können. »Aber sie wird niemals kommen«, sagte er laut, und dann begann er aus Angst vor dem, was er ausgesprochen hatte, den eisernen Stift zu zwei Dritteln in die Erde zu rammen.
    Als er fest genug im Boden steckte, um das Gewicht des Mannes auszuhalten, schlang der Mann bedächtig das Seil zu einem Kreuzknoten, hängte sich das Zaumzeug über und seilte sich langsam über den Rand des Abhangs bis auf den Vorsprung ab. Traurig betrachtete er seine in Mitleidenschaft gezogenen Stiefel. Er hatte sie vor einer Woche erst gekauft und gerade begonnen, sie einzulaufen. Seine Frau würde mit ihm schimpfen, wegen der Kosten und des Risikos. Das Leben war nichts als Kosten und Risiko, dachte er, mit einer schwachen Hoffnung auf Trost, und während es der Trost war, den er seiner Herde einbläute, schlug er sich selbst, in Gedanken woanders, die Nächte um die Ohren.
     
    Er schwang sich auf den Vorsprung, tätschelte unsanft den Hund und begutachtete die verletzte Pfote. Kein Blut, wahrscheinlich nur verstaucht. Er legte einen festen Verband an, während sein Hund ihm mit tiefbraunen Augen zusah.
    »Na komm, Tristan. Wollen wir dich mal nach Hause schaffen.«
    Plötzlich bemerkte er einen langen schmalen Spalt in der Felswand, und dass der Spalt zu glänzen schien, von Malachit vielleicht oder Eisenerz, blank poliert vom salzigen Wind. Der Mann trat heran und fuhr mit den Fingern über den holprigen Rand, ehe er sich halb durch den Spalt hindurchschob, und das, was er sah, raubte ihm den Atem.
    Die Höhlenwand bestand komplett aus Fossilien. Er konnte Farne und Seepferdchen nachzeichnen. Er entdeckte kleine schneckenförmige Abdrücke unbekannter Lebewesen. Plötzlich war alles sehr still; er hatte das Gefühl, jemandes Frieden gestört zu haben, in einem Moment gekommen zu sein, der nicht für ihn bestimmt war.
    Unruhig blickte er sich um. Natürlich war niemand da, doch während er die Hände über die glänzende poröse Oberfläche gleiten ließ, musste er innehalten. Er betrachtete die dunkle Wand, fleckig vom Meerwasser, wie war das Meer nur überhaupt bis hier hinaufgekommen? Zuletzt bei der Sintflut. Er wusste, dass die Erde 4000 Jahre alt war, zumindest nach der Bibel.
    Er drückte die Fingerspitzen in die schneckenförmige Enge der Fossilien, erspürte sie wie ein Innenohr, oder wie das Innere einer …, nein, daran durfte er jetzt nicht denken. Er zog seine Gedanken daraus hervor, während er ohne Unterlass über die dicken weichen Ränder dieses Formenmosaiks strich. Er führte die Finger zum Mund, schmeckte See und Salz. Er schmeckte die Zeit selbst, beißend süß.
    Aus keinem ersichtlichen Grund fühlte er sich plötzlich einsam.
     
    Dark nahm sein Taschenmesser und schlug ein Stück aus der Felswand heraus. Er grub ein uraltes Seepferdchen aus, steckte es ein und kehrte zu seinem Hund zurück.
    »Ruhig, Tristan«, sagte er und schnallte das Zaumzeug umden Hund. Als der Hund gesichert war, befestigte er das Seil an den Ring in der Mitte des Geschirrs und zog sich rasch wieder an der Felswand hoch. Dann legte er sich flach

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