Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)
Angehörigen sind Leuchtturmwärter, ja?«
»Nein, meine Mutter ist tot, einen Vater hatte ich nie, und ich bin bei Pew im Leuchtturm aufgewachsen.«
»Dann könnte vielleicht Mr Pew ein Empfehlungsschreiben aufsetzen.«
»Er ist blind, und ich weiß nicht, wo er ist.«
»Nimm das Formular mit und bring es mir persönlich wieder, sobald du es ausgefüllt hast.«
»Kann ich nicht sofort einen Benutzerausweis bekommen?«
»Nein.«
»Könnte ich vielleicht nur samstags arbeiten?«
»Nein.«
»Dann komme ich eben jeden Tag vorbei und lese die Bücher.«
Und genauso war es.
Das Holiday Inn erlaubte mir sehr gerne, mein kleines fensterloses Zimmer zu behalten, und dafür übernahm ich die Nachtschicht und brachte Gästen, die zu müde zum Schlafen waren, Pommes mit Erbsen. Als ich um fünf Uhr morgens mit der Arbeit fertig war, schlief ich bis elf Uhr vormittags und machte mich dann direkt auf den Weg in den Lesesaal der Stadtbibliothek.
Die Schwierigkeit war nur, da ich mir keine Bücher ausleihen durfte, kam ich nie bis zum Ende einer Geschichte, weil immer jemand auftauchte, um das Buch mitzunehmen. Das machte mir so große Sorgen, dass ich anfing, mir silbrig glänzende Hefte mit laminiertem Einband zu kaufen, wie Astronautenzubehör. Ich schrieb mir die Geschichten ab, so schnell es ging, aber alles, was ich am Ende hatte, waren endlose Anfänge.
Ich las gerade
Der Tod in Venedig
und die Bibliothek wollte schließen, also gab ich das Buch höchst widerwillig bei der Bibliothekarin ab, nicht ohne sie davon in Kenntnis zu setzen, dass ich am nächsten Morgen Punkt neun wieder da sein würde.
Die Vorstellung, dass das Buch ausgeliehen werden könnte, beunruhigte mich so sehr, dass ich in den frühen Morgenstunden aufhörte, den Bedürftigen ihre Pommes mit Erbsen zu bringen, mir die Schürze herunterriss und die Stufen der Bibliothek hinaufrannte wie ein Pilger, der an einem Schrein auf ein Wunder hofft.
Ich war nicht die Einzige dort.
Ein alter Penner hockte mit einem batteriebetriebenen Leucht-Eiffelturm in einer Ecke. Er erzählte mir, er sei malglücklich gewesen in Paris, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, ob in Texas oder Frankreich.
»Wir waren alle mal irgendwann glücklich, nicht wahr? Aber warum sind wir jetzt nicht glücklich? Kannst du mir das mal verraten?«
Das konnte ich nicht.
»Siehst du den da?«, sagte er und wedelte wodkaselig mit der Hand in Richtung einer torkelnden Gestalt auf der Straße. »Der da läuft immer mit einem Hundemantel durch die Gegend. Er wartet noch auf den richtigen Hund.«
»Ich habe eine Hund. Er heißt HundJim. Er wohnt oben in Schottland in einem Leuchtturm.« (Den größten Teil seines Lebens hatte er das getan, auch wenn es jetzt nicht mehr stimmte.)
»Ist dann wohl ’n schottischer Terrier, was?«
»Nein, aber er wohnt in Schottland.«
»Dann müsste er aber ’n schottischer Terrier sein – wieder so ’ne Sache, die falsch rum ist im Leben. Immer ist alles im Leben falsch rum.«
»Das sagt Miss Pinch auch immer. Sie sagt, das Leben sei eine einzige Marter, bis zur tiefsten Nacht.«
»Ist sie allein stehend?«
»O ja. Seit ihrer Geburt.«
»In welcher Ecke hockt sie?«
»Ich versteh nicht.«
»Wo sitzt sie nachts? Ich sitze hier. Wo sitzt sie?«
»In einer schottischen Stadt namens Salts. Sie wohnt in der Railing Row.«
»Vielleicht sollte ich im Sommer mal rauffahren.«
»Das ist die beste Zeit. Wenn’s warm ist.«
»Was tut man nicht alles, damit’s einem warm wird. Deshalb hab ich ja auch dieses Leuchtding hier, verstehst du. Wärmt die Hände. Willst du dir auch mal die Hände wärmen?Was macht so ’n junges Mädchen wie du überhaupt hier draußen?«
»Ich warte, bis die Bibliothek aufmacht.«
»Was meinst du?«
»Die haben ein Buch, das ich mir ausleihen will – ach, das ist eine lange Geschichte.«
(Aber ein sehr kurzes Buch.)
Als die Doppeltüren aufgingen, stellte ich mich an den Empfang und bat um das Buch, nur um zu erfahren, dass die Bibliothekarin selbst es am Abend zuvor entliehen und sich heute Morgen krank gemeldet hatte.
»Können Sie mir sagen, was sie hat? Wie krank ist sie? Krank im Sinne von Bauchweh oder eine schlimme Erkältung, oder ist sie wegen dringender Familienangelegenheiten ein Jahr beurlaubt?«
Die Kollegin bedauerte, aber sie könne dazu nichts sagen – es war ihr nämlich vollkommen egal –, und dann fuhr sie unbeirrt fort, eine Serie Schiffsgeschichten alphabetisch zu
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