Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
noch eine, oder? Eine zweite Zisterne für den Brunnen auf der anderen Seite? Immerhin hatte er keine Schwierigkeiten, sie zu finden. Er maß mit Schritten die Entfernung, und bald hatte er die zweite Platte freigelegt. Bildete er es sich nur ein, oder sah der Bewuchs hier frischer aus? Jedenfalls gab es hier keine Brombeerranken, nur die weichen, saftigen Unkräuter, die im Winter völlig absterben. Die Schieferplatte sah genau aus wie ihr Pendant, silbrigschwarz, hie und da grün bemoost.
Burdens Finger waren zerschunden und bluteten. Er wischte sie an seinem Taschentuch ab, hob die Platte hoch und sah mit einem röchelnden Luftholen auf die Leiche in der Zisterne hinunter.
8
Harry Wild klopfte seine Pfeife in dem Ascher auf Cambs Tresen aus. »Also, sagen Sie’s mir nun?«
»Ich weiß überhaupt nichts, Harry, wirklich. Man hat Mr. Wexford direkt vom Golfplatz geholt, und er ist buchstäblich hier hereingestürmt. Sie müssen schon warten, bis er einen Moment Zeit hat. Wir wissen ja gar nicht, wo uns der Kopf steht. Seit ich bei der Polizei bin, hat es so einen Sonntag nicht gegeben.«
Das Telefon klingelte. Camb nahm den Hörer ab und sagte: »Sie haben John Lawrence in Brighton gesehen, meine Dame? Einen Moment bitte, ich verbinde Sie mit dem zuständigen Beamten.« Er seufzte. »Das«, sagte er zu Wild, »ist jetzt der zweiunddreißigste Anruf heute, in dem jemand behauptet, den Jungen gesehen zu haben.«
»Er ist tot. Mein Informant, der sehr zuverlässig ist, sagt, er ist tot. Burden hat heute morgen die Leiche gefunden, und deshalb habe ich Sonntagsdienst.« Wild beobachtete, wie Camb hierauf reagierte, und fügte dann hinzu: “Ich will nur eine Bestätigung von Wexford, dann bin ich weg, um die Mutter zu interviewen.«
»Besser Sie als ich«, meinte Camb. »Heiliger Strohsack! Nicht für Chinas gesamte Tee-Ernte möchte ich Ihren Job.«
Nicht im mindesten beschämt, zündete Wild seine Pfeife wieder an. »Da wir gerade von Tee sprechen, es ist nicht zufällig welcher da?«
Camb antwortete nicht. Sein Telefon klingelte wieder. Als er mit einem Mann fertig war, der angab, genau so einen blauen Pullover gefunden zu haben, wie ihn John Lawrence der Beschreibung nach getragen hatte, schaute er hoch und sah die Fahrstuhltür aufgehen. »Hier kommen Mr. Wexford«, sagte er, »und Mr. Burden. Auf dem Weg ins Leichenschauhaus, würde ich sagen, zu sehen, was Dr. Crocker inzwischen herausgefunden hat.«
»Ah, Mr. Burden«, sagte Wild, »genau der Mann, den ich sprechen wollte. Was hat es denn nun auf sich mit dem Fund der Leiche des vermißten Kindes?«
Burden verpaßte ihm einen eisigen Blick und drehte sich auf dem Absatz um, aber Wexford bellte: »Warum wollen Sie das überhaupt wissen? Ihr Revolverblatt erscheint doch nicht vor Dienstag.«
»Entschuldigen Sie, Sir«, mischte sich Camb ein, »aber Mr. Wild möchte die Geschichte an die Londoner Blätter schicken.«
»Ah, Zeilenhonorare, ich verstehe. Nun, es liegt mir fern, einen Journalisten daran hindern zu wollen, am Sabbat ehrlich sein Geld zu verdienen. Also, Mr. Burden hat heute morgen eine Leiche gefunden, in einer der Zisternen im Park von Saltram House. Sie können schreiben, daß ein Verbrechen angenommen wird. Die Leiche ist die...« Er hielt kurz inne, »... die eines Kindes weiblichen Geschlechts, ungefähr zwölf Jahre alt, bisher nicht identifiziert.«
»Es ist Stella Rivers, nicht wahr?« sagte Wild gierig. »Kommen Sie schon, lassen Sie einen schwerarbeitenden Mann nicht hängen. Das könnte die größte Geschichte meiner Karriere sein. Vermißtes Kind tot in Ruine gefunden. Bisher kein Hinweis auf verschwundenen Jungen. Ist Kingsmarkham ein neues Cannock Chase? Ich sehe es schon vor mir, ich...«
Wexford besaß große Selbstbeherrschung. Aber er hatte auch zwei Töchter und einen Enkel. Er liebte Kinder mit einer leidenschaftlichen Zärtlichkeit, und seine Beherrschung brach zusammen. »Verschwinden Sie!« röhrte er. »Sie Hintertreppenleichenfledderer, Sie! Sie ekelhafter, widerlicher Schreiberling! Raus hier!«
Wild sah zu, daß er rauskam.
Wenn die Leiche eines Kindes gefunden wird, macht sich bei Polizisten und in ihrem Revier stets eine bedrückte Stimmung breit.
Späterhin jagen sie voller Eifer den Mörder des Kindes, doch zuerst, wenn das Verbrechen eben entdeckt wurde, sind sie fassungslos und krank bis ins Innerste. Denn dieses Verbrechen geht am meisten wider die Natur, es ist das lebensverachtendste und
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