Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
den Weg genommen, der an den Schrebergärten von Myfleet vorbeiführte und schließlich - wohin führte? Wexford beschloß, ihn zu erkunden.
Die Kirchenglocken waren verstummt; Totenstille hatte sich im Wald ausgebreitet. Er ging zwischen den geradwüchsigen schmalen Kiefernstämmen hindurch, warf mal einen Blick nach oben zu den silberhellen Himmelsflecken, mal rund um sich in den Wald hinein, der so düster und bis in Kopfhöhe so kahl war, daß kein Vogel zwitscherte und die einzige Spur von Leben die tanzenden Mückenschwärme waren.
Wegen der Mücken war er froh, als die Bäume zu seiner Linken allmählich lichter wurden und er schließlich entlang den Gartenzäunen von Myfleet ging. Bald darauf hörte er von vorn leises Musikgesäusel. Es war eine rührselige süßliche Melodie, die er unschwer in den Bereich der Pop- oder Tanzmusik einordnete, und sie erinnerte Wexford an jene sanften und leicht erotischen Klänge, die aus Nellekes Transistorradio an sein Ohr gedrungen waren. Gerade als er dachte, wie angenehm anspruchslos die Musik an einem friedlichen Sommerabend wie heute doch klang, hörte sie auf und wurde von einer entsetzlichen Kakophonie abgelöst, die sich aus dem dröhnenden Zusammenspiel eines Schlagzeugs mit mehreren Saxophonen, Hammondorgeln und Elektrogitarren zusammensetzte.
Wexford streckte den Kopf über den Zaun und starrte auf das rechteckige Stückchen Land, teils Wildnis, teils Müllabladeplatz, das der hintere Garten der Lovells war. Aus dem offenen Küchenfenster führte eine ungefähr fünfzehn Meter lange Leitung zu dem Schuppen, aus dem das Getöse drang. Wexford wich ein Stück zurück und hielt sich die drangsalierten Ohren zu.
Dann ließ er die Hände sinken.
In dem Schuppen sprach jemand. Ton und Timbre der Stimme waren unverkennbar, ihr Akzent künstlich gepflegt. So sprach man in der Gegend zwischen Lands End und New York, dachte Wexford.
Mit wachsender Neugier hörte er zu.
Nachdem er sein unsichtbares, ja, nicht vorhandenes Publikum als »Freaks und Frikadellen« angesprochen hatte, machte Sean Lovell in gewandtem Profijargon eine kurze, abschätzige Bemerkung über das letzte Musikstück und kündigte dann mit etwas mehr Enthusiasmus die nächste Platte an. Diesmal war es das Gedudel einer Big Band, und es klang noch mißtönender als der Titel, der Wexford dazu veranlaßt hatte, sich die Ohren zuzuhalten.
Dann hörte es auf. Sean ergriff wieder das Wort, und als Wexford die ganze Bedeutung des Gesagten klar wurde, stieg tiefes Mitleid in ihm auf. Es gibt kaum etwas Jämmerlicheres, dachte er, als einen Mann zu belauschen, der sich allein mit seinem Tagtraum wähnt, einen Mann, der seinem einzigen, privaten und lächerlichen Laster frönt.
»Und jetzt kommen wir zu dem«, kündigte die körperlose Stimme an, »auf den ihr alle gewartet habt. Ihr habt einen langen Weg hinter euch, um heute abend dabeizusein, und ich kann euch versprechen, ihr werdet nicht enttäuscht sein. Hier ist er, Boys und Girls. Applaus für euren Sean Lovell!«
Ohne Begleitung begann er zu singen. Wexford ging weg, sehr behutsam und leise für einen so stattlichen Mann, fast ohne mit den Füßen auf dem mit Kiefernnadeln bedeckten Waldboden ein Knistern zu verursachen.
Nun wußte er, was Sean an jenem Abend getan hatte, was er allabendlich tat und vielleicht noch jahrelang tun würde, bis ihn sich ein Mädchen schnappte und ihm zeigte, daß Träume Schäume sind und der Sinn des Lebens in der Arbeit im Garten eines reichen Mannes liegt.
15
Wexford war so müde, daß er schon eingeschlafen war, kaum daß sein Kopf aufs Kissen sank. Wie die meisten Menschen, die auf jenen Lebensabschnitt zugehen, der nach den besten Jahren kommt, jedoch noch nicht das eigentliche Alter ist, fiel es ihm immer schwerer, eine Nacht wirklich durchzuschlafen. Vor Jahren, als er noch jung war, hatte er es sich vernünftigerweise zur Gewohnheit gemacht, nachts seine Gedanken von den Vermutungen und Sorgen, die ihn tagsüber plagten, zu lösen und auf zukünftige private Vorhaben oder angenehme Erinnerungen zu richten. Sein Unterbewußtsein entzog sich jedoch seiner Kontrolle und machte sich in Träumen von diesen Tagesängsten bemerkbar.
So auch in dieser Nacht. In seinem Traum befand er sich unten am Kingsbrook, wo er gern und oft spazierenging, als er flußaufwärts einen jungen fischen sah. Der junge war blond und schlank und hatte ein grobknochiges angelsächsisches Gesicht. Wexford ging auf ihn zu und hielt
Weitere Kostenlose Bücher