Der Liebe eine Stimme geben
entblößtes Inneres, offengelegt auf diesen linierten DIN -A4-Seiten. Sie blättert sie durch, bis sie bei einem bestimmten Text hängen bleibt, einer Kurzgeschichte über einen merkwürdigen Jungen, der streng innerhalb der Grenzen einer bizarren und doch wunderschönen Fantasiewelt lebt. Sie kann sich erinnern, wann sie diese Geschichte geschrieben hat. Es war vor sechs oder sieben Jahren, nach einem Vormittag am Strand mit den Mädchen, inspiriert von einem kleinen Jungen, den sie dort am Ufer mit Steinen spielen sah. Früher fand sie in ihrem Alltagsleben hier Inspiration, und früher schrieb sie darüber. Wann hat sie aufgehört zu schreiben? Wann wurde ihr Leben uninspiriert?
Eines der Notizbücher, auf die sie stößt, ist brandneu, unberührt. Sie nimmt dieses Notizbuch in die Hand, gibt sich selbst ein Versprechen und legt es beiseite.
Als Nächstes kommt sie zu den Kleidern – dem Mantel mit dem Leopardenmuster, der ihrer Mutter gehört hat; der Lederhose (Rockstar-schwarz), ihrem rosa-orangefarbenen, geometrisch gemusterten Goldie-Hawn-Kleid. Dieses Kleid hat sie früher geliebt . Sie hat es überall getragen – auf Partys, in Discos, zu Hochzeiten, zu ersten Dates. Zu ihrem ersten richtigen Date mit Jimmy.
Sie schlüpft aus ihrem fusseligen Pyjama und streift sich das Kleid über den Kopf, vorsichtig, um nicht an die Decke zu stoßen. Ein Wunder, es passt! Sie muss nicht in den Schlafzimmerspiegel blicken, um zu sehen, ob es gut aussieht. Sie weiß es.
Dann findet sie noch jede Menge billigen Schmuck – riesige silberne Ohrringe, klobige, bunte Plastik-Armreife, viele Kristallsteine, einen Haufen verhedderte Halsketten, alles sehr Madonna-mäßig ungefähr aus der Zeit von Susan … verzweifelt gesucht . Sie steckt sich einen Mondsteinring an den Mittelfinger der rechten Hand und bewundert ihn, während sie sich fragt, warum sie ihn je weggepackt hat.
Sie fragt sich, warum sie überhaupt etwas von diesen ganzen Sachen weggepackt hat. Manches hängt damit zusammen, dass sie von New York nach Nantucket gezogen ist und hierher passen wollte. Wer das ganze Jahr über auf Nantucket lebt, trägt übergroße L.L. Bean-Fleecejacken und Watstiefel, keine Goldie-Hawn-Kleider und Stimmungsringe. Und manches hängt damit zusammen, dass sie von ihren drei Schwangerschaften einiges zugenommen hat. Diese hautenge Rockstar-Lederhose würde ihr beim besten Willen nicht mehr passen. Aber abgesehen von der Lederhose sind diese Dinge, die Notizbücher und Kleider und Fotos und Karten, Teil von ihr, ihrer Geschichte, sie zeigen ihren Sinn für Abenteuer und Stil, ihre Träume von ihrer Zukunft.
Das bin ich , denkt sie, während sie in die Kiste starrt.
Sie und Jimmy haben früher gern Spontanpartys gegeben, mit nichts im Haus außer einer Tüte Kartoffelchips, einem Sixpack Bier und einer billigen Flasche Wein. Jeder brachte etwas mit, und dann hatten sie mehr als genug. Sie hatten immer Spaß. Sie und Jimmy haben schon lange keine Party mehr gegeben. Die Partys hatten sich mit der Zeit verändert, entstanden nicht mehr spontan aus dem schnellen und verspielten Gedanken: Hey, warum laden wir für heute Abend nicht ein paar Freunde zu uns ein? Stattdessen erforderten sie Planung und Kochen und einen Hausputz. Alles musste genau so sein. Sie wurden zu Arbeit, und an den Spaß kann sie sich nicht mehr erinnern, nur noch an die Streitereien zwischen ihr und Jimmy, ausgelöst von irgendwelchem Vorbereitungsstress, und an ihre Wut und ihren Ärger, die ihr noch immer im Bauch lagen, längst nachdem der letzte Gast nach Hause gefahren war.
Früher trug sie Blau- und Grün- und Orangetöne. Früher hatte sie Mumm. Früher ist sie nackt am Fat Ladies Beach ins Meer gesprungen und hat zu der Musik getanzt, die ihr gefiel. Jetzt trägt sie am Strand immer weit geschnittene, große Kleidungsstücke über dem Badeanzug, und sie hört nur noch, was die Mädchen hören wollen, im Allgemeinen Britney Spears oder irgendein rehäugiges Teenagermädchen aus dem Disney Channel.
Früher hat sie geschrieben.
Sie kann kaum glauben, dass sie so viel von sich selbst in eine Kiste gestopft und für so viele Jahre auf den Dachboden verbannt hat. Wenigstens hat sie sich selbst nicht für Goodwill gespendet oder, noch schlimmer, sich selbst weggeworfen. Sie wühlt weiter in der Box, gibt sich mit jedem Gegenstand neuen Erinnerungen hin, bis sie auf das Medaillon stößt, das allererste Geschenk, das Jimmy ihr gemacht hat. Sie öffnet das
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