Der Liebe eine Stimme geben
Hüften gestemmt, tadelt sie ihn im Stillen und widersteht dem Drang, hier aufzuräumen. Dafür ist sie nicht gekommen.
Etwas abseits von seinem Durcheinander befinden sich drei Standventilatoren und zwei kleine Klimaanlagen. Sechs Plastik-Lagerboxen, alle in ihrer Handschrift mit schwarzem Edding auf Abdeckband beschriftet, stehen ordentlich in einer Reihe, je zwei mit der Aufschrift: WEIHNACHTEN , HALLOWEEN , WINTER .
Die Winterboxen sind beide leer. Sie und die Mädchen tragen morgens und abends noch immer ihre Wintermäntel, und auch die Winterstiefel können sie noch gut gebrauchen. Jetzt, wo der Boden endlich ganz getaut ist, ist die schlammigste Zeit des Jahres. Jedes Jahr, etwa ein, zwei Wochen später, als es jetzt ist, bringt Jimmy auf Beths Anweisung alle Wintersachen auf den Dachboden und kommt mit den Ventilatoren und Klimaanlagen wieder herunter. Sie seufzt, als ihr bewusst wird, dass das von jetzt an ihre Aufgabe sein wird.
Eine letzte Box, etwas abseits von den anderen, ganz hinten, trägt die Aufschrift BETH . Eine dicke Staubschicht liegt auf dem Deckel. Sie hat diese Box seit mindestens einem Jahrzehnt nicht mehr geöffnet. Aufgeregt und ängstlich vor dem, was sie darin erwartet, setzt sie sich im Schneidersitz daneben und öffnet den Deckel.
Als Erstes nimmt sie eine rote Frisbeescheibe heraus, auf der alle aus ihrem letzten Frisbeeteam unterschrieben haben. Sie dreht sie in den Händen, während sie jeden Spruch und jede Unterschrift betrachtet. Johnny C! Ihre vier Jahre währende, unerwiderte Reed-College-Schwärmerei. Sie hat seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht. Er war so ein süßer Typ. Er studierte Medizin. Sie fragt sich, wo er jetzt ist. Vermutlich ist er ein erfolgreicher Arzt, der seine Frau nicht betrügt.
Sie findet einen Packen abgerissener Tickets, von einem Gummiband zusammengehalten. Rolling Stones, Stomp, Rent , Cirque du Soleil, das Metropolitan Museum of Art, ein Flugticket von Portland nach New York, ein anderes nach New Mexico, sogar Kinokarten, jede mit den Namen der Freunde oder des Freundes beschriftet, mit denen sie dort war. Sie kann sich nicht erinnern, zu welchem Konzert sie als Letztes gegangen ist (es könnten die Stones gewesen sein), und ihr letzter Flug war von New York nach Nantucket, one-way. Sie vermisst Urlaubsreisen zu unbekannten Orten, Broadway-Shows und Museen (die Ausflüge mit der dritten Klasse jeder ihrer Töchter zum Walfangmuseum zählen dabei nicht).
Sie blättert in ihren Collegeausweisen, Fotos von Partys und Sommerurlauben. Sie lacht über ihr toupiertes Haar und ihren aquamarinblauen Eyeliner. Die Neunziger!
Dann findet sie einen Stapel Geburtstagskarten, und sie zögert, während sie all ihren Mut zusammennimmt. Acht Geburtstagskarten von ihrer Mutter. Sie liest sie alle durch, angefangen mit den süßen Sechzehn, jedes handgeschriebene Wort, jedes Alles Liebe, Mom ein kostbarer Schatz. Sie wischt sich jedes Mal die Augen mit dem Pyjamaärmel, wenn die Worte zwischen ihren Tränen zu verschwommen werden, um sie lesen zu können.
Ihrer Mutter wurde in dem Sommer, bevor Beth nach Nantucket zog, ein Knoten in der Brust entfernt. Ihr Arzt sagte, sie hätten alles erwischt. Nach der Operation bekam sie eine Bestrahlung und Chemotherapie. Es war ein Standardverfahren. Alles sah gut aus.
Sie hatte keine Haare mehr, als Beth im September nach New York zog. Es war ihr erster Job nach dem College, als Redaktionsassistentin für das Self -Magazin. Ihre Mutter bestand darauf, dass sie wegzog und ihr Leben anfing, und versicherte ihr, dass es ihr gut gehen würde.
Aber es ging ihr nicht gut. Sie hatten nicht alles erwischt. Im November wurde sie erneut operiert, diesmal, um ihr die ganze Brust und etwas Lymphgewebe zu entfernen. Beths Herz verkrampft sich. Wenn sie das doch bloß gleich getan hätten. Wieder sagten die Ärzte, sie hätten alles erwischt. Am Thanksgiving-Wochenende feierten sie und Beth, erleichtert und froh.
Aber sie hätten gar nichts feiern sollen, denn irgendwelche mikroskopisch kleinen Krebszellen hatten sich bereits von ihrer Brust gelöst, bevor die Ärzte sie ihr abnahmen, und sie schwebten durch den Körper ihrer Mutter, um sich ein neues Zuhause zu suchen. Zuerst fanden sie ihre Leber. Und dann ihre Lungen. Im Januar starb sie.
Beth hält die letzte Geburtstagskarte in Händen, das letzte Alles Liebe, Mom . Es war ihr dreiundzwanzigster Geburtstag, und sie hätte sich nie vorstellen können, dass ihre Mutter nicht
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